Der Aufstand der indischen Sepoy und der Angriff der palästinensischen Hamas – ein Vergleich

Reflex in konzentrierter Form

Im Sommer 1857 kam es in dem von Britannien beherrschten Indien zu einem Aufstand, der durch seine Grausamkeiten weltweit Entsetzen und Abscheu auslöste und der bis heute nachwirkt. Ausgelöst durch das Gerücht, die Patronen ihrer neuen Enfield-Gewehre würden Fett von Kühen und Schweinen enthalten, hatten sich zunächst in Meerut Hindu- und Muslim-Sepoys der East India Company gegen ihre britischen Offiziere und Unteroffiziere erhoben. Hintergrund war, dass man die Hüllen der Patronen vor dem Laden mit den Zähnen aufbeißen musste, so dass die Soldaten Gefahr liefen, Spuren des Fetts ungewollt zu sich zu nehmen. Das war – was die Kühe betraf – für Hindus aus religiösen Gründen unerträglich und für die Moslems stellte das Schweinefett ein unüberwindliches Hindernis dar. Diese Zumutungen waren aber nur Anlass für den Aufstand. Ursachen war die andauernde Unterdrückung, Demütigung und Missachtung der einheimischen Bevölkerung durch die britischen Kolonialherren.

Als Sepoys wurden die von der britischen Kolonialmacht unterhaltenen indischen Truppen bezeichnet. Die „Große Meuterei“, wie die Erhebung auch genannt wird, hatte Anfang Juni 1857 die Garnison in Kanpur (im heutigen indischen Bundesstaat Uttar Pradesh) unter dem Befehl des britischen Kommandanten Wheeler erfasst.

Aufstand Indiens

Das Gros der 3.000 Sepoys verweigerte den Befehl. 300 europäische Soldaten, 80 indische sowie einige hundert Zivilisten, darunter 400 Frauen und Kinder, zogen sich daraufhin in den befestigten Kern der Garnison zurück. Wassermangel, Hunger, Krankheiten, der Gestank der Leichen sowie die seelische Belastung untergruben bald den Durchhaltewillen der Belagerten. Als schließlich klar wurde, dass auf Entsatz nicht zu hoffen war – die Aufständischen hatten die Telegrafenleitungen gekappt –, beschlossen Wheeler und seine Offiziere, das Angebot des indischen Großmoguls Nana Sahib anzunehmen: freier Abzug nach Aufgabe.

Am 27. Juni 1857 verließen die Briten die Ruinen und marschierten zum Ganges, wo sie Boote erhalten sollten, mit denen sie sich nach Allahabad durchschlagen wollten. Waffen und Munition durften sie mitnehmen, doch das half ihnen wenig. Die Boote wurden in Brand geschossen und versenkt, vor allem Männer wurden dabei getötet. 125 Frauen und Kinder wurden in einem Frauenhaus eingepfercht. Zusammen mit weiteren Flüchtlingen kampierten dort rund 200 Menschen unter entsetzlichen Bedingungen. Ruhr und Cholera dezimierten die Inhaftierten. Als britische Truppen auf Kanpur vorstießen, setzte Nana Sahib die Eingeschlossenen als Geiseln für Verhandlungen ein. Da sich die britischen Truppen aber als überlegen erwiesen, beschloss die Führung der Rebellen, die Gefangenen umzubringen, bevor die Briten die Stadt erreichten. Am 15. Juli wurden die wenigen verbliebenen Männer ermordet. Die Sepoys weigerten sich aber, auch die 65 Frauen und Kinder zu töten, die die Tortur bis dahin überlebt hatten. So wurden Fleischer aus dem Basar der Stadt gedungen. Sie sollen eine Stunde benötigt haben, um mit ihren Schlachtermessern das grausame Werk zu vollbringen.

Als die Briten am 17. Juli 1857 in die Stadt einrückten, fanden sie – folgt man den kolportierten Berichten darüber – Kinderschuhe, in denen noch die Füße steckten. „Im Hof fünf Zentimeter hoch das Blut, Haarzöpfe und Kleider der armen Ladys, alles wurde vorgefunden“, notierte eine entsetzte Queen Victoria im fernen London nach der Lektüre der Zeitungen in ihr Tagebuch.

Maßlose Vergeltung

Nicht allein in Britannien, in ganz Europa und im Rest der westlichen, sogenannten „zivilisierten“ Welt war das Entsetzen über das Geschehene groß. Und so sah auch Karl Marx Anlass, die Ereignisse in mehreren Artikeln zu beschreiben und zu kommentieren. Am 16. September 1857 erschien in der „New York Daily Tribune“ von ihm der Zeitungsbericht „Der indische Aufstand“. Marx stellte die von den Sepoys begangenen Taten keineswegs in Abrede, er verglich sie aber sogleich mit der Gewalt, die unter dem „Beifall des respektablen Englands“ regelmäßig ausgeübt wird, wenn sie nur der Wahrung der eigenen Interessen dient – ob sie nun von den Briten selbst oder von anderen Völkern ausgeübt wird, ob in Europa oder in den Kolonien, entscheidend ist immer das Klasseninteresse. Marx schrieb: „Die von den revoltierenden Sepoys in Indien begangenen Gewalttätigkeiten sind in der Tat entsetzlich, scheußlich, unbeschreiblich – so, wie man sie nur in Insurrektionskriegen, in Kriegen von Völkerstämmen und Geschlechtern und vor allem in Religionskriegen anzutreffen erwartet, mit einem Wort, solche Gewalttätigkeiten, wie sie den Beifall des ‚respektablen Englands‘ zu finden pflegten, wenn sie von den Männern der Vendée an den ‚Blauen‘, von den spanischen Guerillas an den ungläubigen Franzosen, von den Serben an ihren deutschen und ungarischen Nachbarn, von den Kroaten an den Wiener Aufständischen, von Cavaignacs Garde mobile oder von Bonapartes Dezemberleuten an den Söhnen und Töchtern des proletarischen Frankreichs verübt wurden.“

Marx kommt dann auf die Ursache der Gewalt zu sprechen: „Wie schändlich das Vorgehen der Sepoys auch immer sein mag, es ist nur in konzentrierter Form der Reflex von Englands eigenem Vorgehen in Indien nicht nur während der Zeit der Gründung seines östlichen Reiches, sondern sogar während der letzten zehn Jahre einer lang bestehenden Herrschaft. Um diese Herrschaft zu charakterisieren, genügt die Feststellung, dass die Folter einen organischen Bestandteil ihrer Finanzpolitik bildete. In der Geschichte der Menschheit gibt es so etwas wie Vergeltung; und es ist eine Regel historischer Vergeltung, dass ihre Waffen nicht von den Bedrückten, sondern von den Bedrückern selbst geschmiedet werden.“ Der letzte Satz bezog sich auf die Tatsache, dass es von den Briten ausgebildete und ausgerüstete Truppen waren, die diese Taten begangen hatten. Britannien hatte die Sepoys überhaupt erst geschaffen.

In dem Artikel zeigt sich die Überlegenheit der Marxschen Argumentation. Er beließ es nicht bei der üblichen bigotten Empörung über die begangenen Taten der Aufständischen, sondern verglich sie mit dem alltäglichen Terror der Unterdrücker, der nicht weniger grausam ist. Er ordnete die Ereignisse historisch ein und machte sie dadurch erklärbar.

Es ist Marx, der darauf aufmerksam macht, dass man nicht vergessen sollte, dass „während die Gräueltaten der Engländer als Zeugnisse militärischer Kraft dargestellt und einfach und schnell erzählt werden, ohne bei abscheulichen Einzelheiten zu verweilen, die Gewalttätigkeiten der Eingeborenen, so entsetzlich sie sind, noch vorsätzlich aufgebauscht werden“.

Die tatsächlich begangenen Gräueltaten und erst recht die hinzugedichteten wurden als Rechtfertigung benutzt, um jede noch so infame Vergeltungsmaßnahme der britischen Kolonialmacht zu rechtfertigen. „Die besondere Schwere des Massakers von Kanpur bestand darin, dass es von einem unterworfenen Volk begangen wurde – von dunkelhäutigen Männern, die es wagten, das Blut ihrer Herren und das hilfloser Damen und Kinder zu vergießen.“ So erklärte der britische Kriegsberichterstatter William Howard Russell das „herausragende Verbrechen“, das sich im Sommer 1857 auf dem Höhepunkt des indischen Aufstandes ereignete. Es sollte die Sicht der Briten auf ihre Untertanen nachhaltig prägen.

Aufstand Gazas

Am 7. Oktober 2023 überwanden Kämpfer den schwer befestigten Grenzzaun zwischen dem Gaza-Streifen und Israel, überfielen dort Siedlungen und ein unmittelbar am Zaun stattfindendes Jugendfestival. Das von Marx mit Blick auf die Taten der Sepoys gefällte Urteil als „in der Tat entsetzlich, scheußlich, unbeschreiblich“ trifft auch auf die Gewalt der Hamas zu. Neben Soldaten wurden hunderte Unschuldiger, Männer, Frauen, Kinder getötet, ganze Familien wurden gemeinsam hingerichtet. Etwa 230 Geiseln wurden verschleppt.

Wie seinerzeit kaum über die Ursachen für die in Indien ausgebrochene Gewalt gesprochen wurde, so wird heute über die Leiden, die Verzweiflung und die Ausweglosigkeit der Palästinenser in dem „offenen Gefängnis“ Gaza geschwiegen. Unerwähnt bleibt, dass sich das palästinensische Volk seit der Staatsgründung Israels 1947 einer Politik der Unterdrückung, der Vertreibung und des Terrors ausgesetzt sieht. Politik und Medien des Westens ignorieren dies weitgehend.

Israelische Rache

Die israelische Regierung geht bei der Beschreibung ihres Krieges im Gaza-Streifen verharmlosend von „Antiterrormaßnahmen“ aus. Und in einem Kommentar der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ wird „die Dezimierung der Terrorbande“ als „Voraussetzung für einen dauerhaften Frieden verlangt.“ Lenin schrieb im Mai 1917 in seiner Schrift „Krieg und Frieden“ über diese Kolonialkriege, die eigentlich gar keine Kriege sein sollen: „Nehmen sie die Geschichte der kleinen Kriege (…), weil in diesen Kriegen wenig Europäer, dafür aber Hunderttausende aus jenen Völkern umkamen, die sie versklavten, die von ihrem Standpunkt nicht einmal als Völker angesehen werden (irgendwelche Asiaten, Afrikaner – sind das etwa Völker?); mit diesen Völkern wurden Kriege folgender Art geführt: sie waren waffenlos, und man mordete sie mit Maschinengewehren.“ Und er fügte sarkastisch hinzu: „Sind denn das Kriege? Das sind doch eigentlich keine Kriege, das kann man der Vergessenheit anheimfallen lassen.“

Wie die Rache der Briten 1857 maßlos und extrem grausam war, so übersteigt auch die Vergeltung der Israelis heute jegliche Proportionalität und wird in ihrer Zerstörungswut zu Recht als Völkermord verurteilt: „Mehr als 40.000 Tote, davon 36.330 Zivilpersonen, 14.861 Kinder, 9.273 Frauen bilanziert der ‚Euro-Med Human Rights Monitor‘ nach 160 Tagen Krieg gegen Gaza. 74.400 Verletzte, zwei Millionen Vertriebene, 112.000 völlig zerstörte, 256.100 stark beschädigte Wohngebäude, 2.131 zerstörte Betriebe, 634 zerstörte Moscheen, drei zerstörte Kirchen, 200 zerstörte Stätten des Kulturerbes, 175 zerstörte oder stark beschädigte Medienbüros und 134 bei ihrer Berufsausübung getötete Journalisten.“

Während aber über jedes noch so kleine Detail des Schicksals der getöteten und verletzten Israelis wieder und wieder ausführlich berichtet wird und für die verschleppten Geiseln eine weltweite Solidaritätsbewegung organisiert wurde, bleiben die in die Zehntausende zählenden palästinensischen Opfer gesichtslos und daher anonym. Schon allein die wahllosen Bombardierungen der israelischen Armee sorgen dafür, dass sich nur noch wenige Journalisten in den Gazastreifen trauen, und so gibt es auch immer weniger Nachrichten und Bilder von den Leiden der Palästinenser. Wie die Gräueltaten der Briten in Indien werden auch die heutigen der Israelis – wie Marx schrieb – „als Zeugnisse militärischer Kraft dargestellt und einfach und schnell erzählt (…), ohne bei abscheulichen Einzelheiten zu verweilen“.

Es zeigt sich also, dass es auffällige Parallelen zwischen dem indischen Aufstand von 1857 und dem Angriff der Hamas 2023 gibt. Auch die maßlosen Reaktionen darauf – seinerzeit der Briten, heute der Israelis – ähneln sich. Und das ist alles andere als zufällig, existiert doch noch immer der Kolonialismus. Als „Herrenvolk“-Demokratie unterdrückt Israel die Palästinenser.

1947 – 90 Jahre nach dem Sepoy-Aufstand – erlangte Indien seine Unabhängigkeit und konnte damit das koloniale Joch abschütteln. Die Palästinenser warten seit 76 Jahren auf ihren Staat. Aber auch für sie wird der Tag der Freiheit kommen.

Der Artikel erschien in der Rubrik „Marx Engels aktuell“ online bei der Marx-Engels-Stiftung. Wir haben ihn gekürzt und redaktionell bearbeitet.

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"Reflex in konzentrierter Form", UZ vom 7. Juni 2024



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