Bundesverwaltungsgericht: Generelles Versammlungs­verbot in Pandemie „unverhältnismäßig“

Rechtsbruch mit Ansage

Tilo Gräser

Das generelle Verbot von Versammlungen durch die sächsische „Corona-Schutz-Verordnung“ vom 17. April 2020 hat das Bundesverwaltungsgericht in Leipzig drei Jahre später als „unwirksam“ eingestuft. Die entsprechenden Regelungen der Verordnung „waren mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit nicht vereinbar“, entschied das Gericht am 21. Juni dieses Jahres.

Ein 36-jähriger Mann hatte gegen die Regelungen geklagt, nachdem ihm untersagt worden war, vor dem sächsischen Gesundheitsministerium in Dresden gegen die Einschränkung der Grundrechte zu protestieren. Das Oberverwaltungsgericht in Bautzen hatte im Dezember 2021 gegen ihn entschieden und die Verordnung für rechtmäßig erklärt.

Der angebliche Zweck des Versammlungsverbotes, die Ausbreitung von Covid-19 zu verlangsamen, habe nicht im Verhältnis zur Schwere des Grundrechtseingriffs gestanden, erklärte das Bundesverwaltungsgericht nun. Es habe sich um einen schweren Eingriff in die Versammlungsfreiheit nach Artikel 8 Absatz 1 des Grundgesetzes (GG) gehandelt, „die für eine freiheitlich-demokratische Grundordnung konstituierend ist“. Das Bundesverwaltungsgericht betonte, ein generelles Versammlungsverbot ohne konkrete Ausnahmen wie in der sächsischen Verordnung werde „der Bedeutung der Versammlungsfreiheit für ein freiheitliches Staatswesen nicht gerecht“.

Auch andere Bundesländer hatten im Frühjahr 2020 sämtliche Versammlungen und Kundgebungen selbst im Freien verboten, Letzteres ungeachtet der medizinisch-wissenschaftlichen Erkenntnisse, dass Ansteckungen im Freien kaum vorkommen. Das Leipziger Gericht meinte nun, der Freistaat Sachsen hätte „regeln müssen, unter welchen Voraussetzungen Versammlungen infektiologisch vertretbar sein können, um zumindest Versammlungen unter freiem Himmel mit begrenzter Teilnehmerzahl unter Beachtung von Schutzauflagen wieder möglich zu machen“.

Das Urteil aus Leipzig ist beachtenswert. Es bleiben die Fragen, warum es so spät kommt und warum die Justiz bei den Corona-Maßnahmen nicht eher die Frage der Verhältnismäßigkeit bei den Eingriffen in die Grundrechte stellte – und zum Teil bis heute nicht stellt. Denn es war von Beginn an offensichtlich, dass die staatlichen Eingriffe in mehrere Grundrechte jegliches Maß überschritten.

Darauf hatte unter anderem der Rechtsanwalt und Bürgerrechtsaktivist Rolf Gössner bereits im April 2020 hingewiesen. In der Zeitschrift „Ossietzky“ forderte er dazu auf, die Situation durch Covid-19 kritisch zu hinterfragen sowie auf Verhältnis- und Verfassungsmäßigkeit zu überprüfen – „gerade in Zeiten dirigistischer staatlicher Zwangsmaßnahmen, gerade in Zeiten allgemeiner Angst, Unsicherheit und Anpassung. Zumal die einschneidenden, unser aller Leben stark durchdringenden Maßnahmen letztlich auf Basis einer ungesicherten wissenschaftlichen Datenlage verhängt worden sind.“

Er schrieb von einem „Ausnahmezustand“, in dem jede organisierte Gegenwehr und kollektive Meinungsäußerung im öffentlichen Raum weitgehend tabu sei. „So wird politische und soziale Teilhabe weitgehend ausgebremst, so werden Versammlungsfreiheit und Streikrecht per Allgemeinverfügung und Polizeigewalt ausgehebelt und damit in ihrem Wesens­gehalt verletzt – zeitweise selbst dann, wenn die Aktivisten Sicherheits- und Abstandsregeln beachten.“

Der Anwalt sprach von einem „verfassungsrechtlichen Desaster mit polizeistaatlichen Anklängen, dem die Verwaltungsgerichte zunächst mit auffälliger Zurückhaltung bei der rechtlichen Überprüfung begegneten“. Generelle Versammlungsverbote seien verfassungswidrig, erklärte er bereits vor mehr als drei Jahren.

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"Rechtsbruch mit Ansage", UZ vom 30. Juni 2023



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