Über eine Floskel, die Argumente nutzlos macht

Rechtfertigungsverbot

Der Begriff Floskel meinte ursprünglich „einprägsame Formulierung“. Seine Sinnentleerung bekam er durch zu häufige und durch zu deutlich zweckgerichtete Nutzung – inzwischen steht Floskel allgemein für eine „nichtssagende Formulierung“.

„Der russische Angriff auf die Ukraine ist mit nichts zu rechtfertigen“, heißt es fast gleichlautend nahezu überall auch dort, wo es sehr wohl kritische Stimmen gegen die westliche Aufrüstungs- und Eskalationsspirale gibt – ob in der Einladung zu einer Veranstaltung eines IMI-Referenten, in ansonsten klugen oder zumindest bemühten Offenen Briefen diverser Intellektueller oder auch im Interview des ver.di-Vorsitzenden. Alle treten sie für reden statt Krieg und gegen weitere Aufrüstung des Westens ein; oder sie stellen fest, dass die NATO zuvor eine jahrelange Eskalationspolitik betrieben hatte. Aber zuerst steht die genannte Floskel.

Warum aber wissen alle so genau, dass die lange Zeit vorgetragenen Rechtfertigungen der russischen Führung – egal, ob es um die Verhinderung der NATO-Erweiterung mit der Konsequenz von nur noch drei Minuten Raketen-Vorwarnzeit bis nach Moskau, ob es um die Verhinderung eines übermilitarisierten Nazi-Staats inmitten Europas oder ob es vielleicht sogar einmal um die Beendigung des fortgesetzten Völkermords an der russischsprachigen Minderheit im Nachbarland geht – nicht wert sind, in irgendeiner vorurteilsfreien Form überhaupt noch in Betracht gezogen zu werden? Mag sein, dass man sich vorab durch Distanzierung absichern will, um im medialen Kriegshype gehört zu werden – indem man feststellt, das russische Vorgehen sei „mit nichts“ zu rechtfertigen. Dieses Mantra bedeutet aber noch nicht einmal Äquidistanz. Es ist vielmehr eine politische Selbstentwaffnung.

Zunächst entledigt man sich damit der guten Sitte, sich mit Argumenten des anderen auseinanderzusetzen. Aber man enthebt sich damit zudem der Option einer wirklich differenzierten Analyse; denn es wird egal, was man danach noch an Richtigem zur Mitverantwortung der NATO, zu Nazistrukturen, die von der Bundesregierung mit Waffen versorgt werden, oder zum Recht auf Leben auch von russischen Menschen sagt – man betreibt eine durch kaum mehr als nichts zu rechtfertigende Argumentationshilfe für die Feinde von Frieden und Ausgleich zwischen den Völkern.

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"Rechtfertigungsverbot", UZ vom 6. Mai 2022



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