Zu Hermann Klenners „Recht, Rechtsstaat und Gerechtigkeit“

Recht als Produziertes und als Produzierendes

Von Ekkehard Lieberam, Roland Wötzel

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Hermann Klenner

Recht, Rechtsstaat und Gerechtigkeit

Eine Einführung

Neue Kleine Bibliothek 223

PapyRossa Verlag, Köln 2016

142 Seiten

Hermann Klenner, Gast auf einer Tagung der Kommunistischen Plattform (2007)

Hermann Klenner, Gast auf einer Tagung der Kommunistischen Plattform (2007)

( Die Linke/ KPF)

Bescheiden bezeichnet Hermann Klenner sein bei PapyRossa erschienenes Buch zu „Recht, Rechtsstaat und Gerechtigkeit“ als „Einführungsbändchen“. Eine arge Untertreibung. Es handelt sich um einen rechtstheoretischen Essay, um eine geistreiche Abhandlung eines marxistischen Rechtsphilosophen mit Weltrang, Sprachgewalt und enzyklopädischem Wissen, der seit mehr als 65 Jahren über diese Themen nachdenkt und publiziert.

Mit 25 Jahren, im September 1951 beauftragte die Humboldt-Universität zu Berlin Hermann Klenner mit der Wahrnehmung einer Dozentur für „Theorie des Staates und des Rechts und der Geschichte politischer Anschauungen“. In der Festschrift zu seinem 70. Geburtstag sind 621 Titel für die Zeit von 1952 bis 1997 aufgeführt. Das vorliegende Buch wendet sich an Juristinnen und Juristen und an Interessierte. Es ist eine moderne, nicht leicht zu lesende, aber auch für juristische Laien verständliche Aufklärungsschrift zu brennenden juristischen und politischen Fragen: „Das Recht legalisiert, was aber legitimiert das Recht? Das Recht illegalisiert, aber was illegitimiert das Recht?“ Mit Gewinn für die hoffentlich zahlreichen Leser hat der Autor Freude an Paradoxien und Aphorismen: „Freilich ist Kritik die mildeste Form von Widerstand, und bloße Kritiker bleiben wissend oder unwissend gewollt oder ungewollt als Gegenläufer des Systems zugleich dessen Mitläufer.“

Klenner beginnt seine komprimierte Rechtstheorie mit Empirischem: mit Exzerpten aus juristischen Texten von (a) über alle folgenden Buchstaben des Alphabets hinweg bis (z). (a) zitiert die Norm zum Mord im codex Ur-Nammu, der mit 4 100 Jahren ältesten schriftlichen Rechtssammlung der Welt. Unter (l) wird der Text zur Trennung der richterlichen Gewalt von den gesetzgebenden und ausführenden Gewalten in der Virginia Bill of Rights von 1776 wiedergegeben. (z) betrifft die Regelung über die Zuständigkeit des 1998 gebildeten Internationalen Strafgerichtshofes für „das Verbrechen der Aggression“. Die 26 Exzerpte, sind für ihn Beispiele, an denen er immer wieder die verschiedenen Aspekte, das Wesen, das System, die Strukturen und Funktionen des Rechts verdeutlicht. Am Schluss bringt Klenner eine „Marx-Engels-Anthologie zur Natur des Rechts“ von 1842 bis 1890.

Rolle und Wesen des Rechts

Für Herrmann Klenner hat es mit „Juristenschelte“ nichts zu tun, dass es einen allgemein anerkannten formalen und materiellen Rechtsbegriff nicht geben kann. Dies resultiert aus der Rolle des Rechts als Ordnungselement in den seit Jahrtausenden sich herrschaftsförmig organisierten und entwickelnden Gesellschaften. Das „reflektierende Begreifen juristischer Sachverhalte und Kategorien, deren Entstehungs-, Entwicklungs- und Verwirklichungsbedingungen einschließend“, habe sich in einem historischen Prozess „sich voneinander abstoßender und sich auch gegeneinander entwickelnden Auffassungen“ entwickelt. Das Gewohnheitsrecht habe sich dabei zum Gesetzesrecht fortentwickelt. Dieses sei keine bloße Summe, sondern ein „mehr bis minder wohlstrukturiertes System von Rechtsnormen, ein Rechtssystem“. Letztlich sind es die durch die Produktionsweise bestimmten Machtverhältnisse, „die aus den subjektiven Absichten und Einsichten des Gesetzgebers objektives Recht“ werden lassen.

Die von Karl Marx begründete Zäsur im Rechtsdenken bestehe darin, dass dieser „in der inneren Gegensätzlichkeit der Gesellschaft, ihrem Selbstwiderspruch, das Wesen des Rechts erkannte“. Anliegen von Klenner auch in diesem Buch ist es, über drei sich daraus ergebende „Fundamentalattribute des Rechts“ im Detail aufzuklären: über dessen Flexibilität, Normativität und Funktionalität. Recht ist „Produziertes, aber auch Produzierendes“: Es spiegelt die gesellschaftlichen Verhältnisse wider. Es regelt diese Verhältnisse. Es wirkt als Mittel von Macht. Es ist Maß der Macht. Es ist aber keine Alternative zur Macht. Es vermag, „das Unrecht nicht zu verhindern, höchstens einzudämmen“.

Rechtsstaat – Unrechtsstaat?

Hermann Klenner war in der DDR eine Institution: als besonders unter Juristen geachteter Rechtsgelehrter, als Mitglied der Akademie der Wissenschaften, als Vertreter der DDR (in den achtziger Jahren) in der UNO-Menschenrechtskommission. Seine Positionen gegen die Gleichsetzung von Recht und Politik, sein Verständnis vom Recht als Maß für die Macht waren nicht besonders kompatibel mit offiziellen Gesellschafts- und Rechtsauffassungen. Es gab zwei ernste Konflikte mit der politischen Führung. 1957 wurde er des Revisionismus beschuldigt, hatte kurzzeitig Publikationsverbot und ging einige Jahre als Bürgermeister zur „Bewährung in der Praxis“ in ein Dorf im Oderbruch. 1968 beschuldigte ihn DDR-Generalstaatsanwalt Josef Streit auf dem 9. Plenum des ZK der SED, „Rückfalltäter“ zu sein und „der Konvergenztheorie das Wort zu reden“. Er verwahrte sich dagegen auf einer Postkarte an Streit.

Rückblickend sieht Hermann Klenner die Dinge differenziert, abgewogen, aber dennoch sehr kritisch. Er hat nichts übrig für den „bösartigen Primitivismus“ der „Unrechtsstaatskeule“, wie sie seit einiger Zeit auch von Politikern der Linkspartei geschwungen wird. Der „Untergang des frühsozialistischen Gesellschaftssystems in der DDR“ sei „gewiss nicht durch deren Rechtsordnung verursacht“ gewesen. Nicht zu übersehen aber seien dafür „begünstigende Bedingungen“ in der Rechtsordnung der DDR. Dazu gehöre die Unterbewertung der subjektiven, erforderlichenfalls auch gerichtlich durchsetzbaren Rechte der Bürgerinnen und Bürger im Verwaltungsrecht und im Staatsrecht. Ohne Vergesellschaftung des Staates könne es auch keine Vergesellschaftung der Produktionsmittel, ohne subjektive Rechte kein objektives Recht geben.

Klenner polemisiert zugleich gegen Behauptungen, die BRD sei ein Rechtsstaat. Hinsichtlich zukünftiger Sozialismusanläufe tritt er vehement für einen demokratisch-sozialistischen Rechtsstaat ein. In „Umbruchszeiten“ habe der „Instrumentaleigenschaft“ des Rechts, „das Bewirken mit Recht ohne Rücksicht auf die Gleichheit vor dem Gesetz“, Hochkonjunktur. „Wird allerdings diese Interessenverschiebung zu Ungunsten der Normativeigenschaft des Rechts zur Theorie einer Praxis auf lange Sicht gemacht, gerät Theorie auf gefährliche und Praxis auf tödliche Irrwege.“

Gerechtigkeit

Klenners Gedanken zu „Gerechtigkeiten“ im letzten Kapitel beginnen mit einer Skizze der über Jahrtausende hinweg unternommenen, voneinander jeweils abweichenden Versuche, Gerechtigkeit zu definieren. Es gebe herrschende und davon abweichende Meinungen. Eine allgemein anerkennungsfähige Auffassung darüber, worin denn Gerechtigkeit und Ungerechtigkeiten bestehen, könne es ebenso wenig geben wie beim Rechtsbegriff. Der Selbstwiderspruch der Klassengesellschaft bedinge „Zwietracht, im Streit“ und nicht „Eintracht“. Es bleibe dennoch die Frage nach einem „gültigen Maß für die Bewertung von Recht und Unrecht“. Seine Analyse des Denkens über Gerechtigkeit und der normativen Fixierung dieses Begriffs offenbart, dass dessen Gebrauch und Missbrauch als „Leerformel“ und „Allerweltsformel“, „rhetorisches Ornament“, als „bloße Ideologie“ bei der Legitimitätsbeschaffung für Präventivkriegsunternehmen, als „Lieblingsphrase auch aller Parteien“ eindeutig im Vordergrund steht. „Jedenfalls scheint ‚Gerechtigkeit’ von Haus aus ein Schleusenbegriff zu sein, durch keinen Inhalt beschwert, doch bereit, jedweden Inhalt aufzunehmen.“ Aber er präzisiert: „Was jedoch logisch nichts besagt, kann psychologisch sehr viel und vor allem vielerlei bedeuten.“

Klenner übersieht nicht, dass Gerechtigkeit auch „eine Parole für eine Gesellschaft ohne Herren und Knechte, für eine ‚Gerechtigkeit von Unten’“ ist. Einen eigenen Gerechtigkeitsbegriff bringt er im vorliegenden Buch dennoch nicht. Forderungen etwa nach einem „gerechten Lohn“ sind für ihn absurd. In Erwartung einer bevorstehenden Revolution hätten Marx und Engels „Gerechtigkeitsforderungen innerhalb der bestehenden Gesellschaftsformation unterbewertet“. Aber Theorien als Spielwiese für Gerechtigkeitsvisionen oder als Konzepte hin zu immer mehr Gerechtigkeit im Zuge einer „evolutionären Transformation“ sieht er kritisch. Gerechtigkeitsforderungen hätten ihren Sinn als Mobilisierungsmittel gegen die als ungerecht bewerteten Gesellschafts- und Rechtsverhältnisse, um „im eigenen Erleben“ die eigenen Interessen zu erkennen und dafür zu kämpfen. Es gehe darum, so dem Gerechtigkeitsproblem eine Schleuse zu eröffnen, „die schließlich auf die Widersprüche innerhalb der Macht/Ohnmacht-Struktur der Gegenwartsgesellschaft als auf unsere Hoffnungen setzt.“

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"Recht als Produziertes und als Produzierendes", UZ vom 3. Februar 2017



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