Warum der Abschluss in der Chemieindustrie zum Muster für andere Branchen wurde

Reallohnverlust per Tarif

Es war am 1. Juni 2022, als Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) verkündete, er wolle Gewerkschaften und Unternehmerverbände zu einer „konzertierten Aktion gegen den Preisdruck“ laden. Anfang Juli und Mitte September gab es erste Treffen. Beim Treffen im Oktober wurde dann die „Inflationsausgleichsprämie“ in einer Höhe von bis zu 3.000 Euro beschlossen, die steuer- und abgabenfrei durch die Unternehmen ausbezahlt werden kann. Ihr Zweck war, hohe Tarifabschlüsse zu vermeiden. Die IG BCE hat früh Sympathie für ein steuerfreies Entlastungsgeld für die Beschäftigten gezeigt. Das Gesetz dazu trat am 19. Oktober 2022 in Kraft und gilt bis Ende 2024. Der erste Tarifabschluss, der diese Prämie aufgriff, war der Chemieabschluss am 18. Oktober 2022. Es kann wohl davon ausgegangen werden, dass dieser Abschluss direkt mit dem Kanzleramt abgesprochen wurde.

Die Industriegewerkschaft Bergbau, Chemie, Energie (IG BCE) ist vor circa 25 Jahren durch den Zusammenschluss dreier kleinerer Gewerkschaften gegründet worden und ist für ihre Sozialpartnerschaft mit der Kapitalseite bekannt. Sie hat etwa 600.000 Mitglieder in den Branchen Chemie, Energie, Glas, Kautschuk, Keramik, Kunststoff, Leder, Papier und Bergbau. Die Chemieindustrie ist die größte Branche mit circa 580.000 Beschäftigten. Gestreikt wird dort seit Jahrzehnten nicht. Den letzten Streik gab es in der Chemieindustrie vor über 50 Jahren (1971). Streiks passen nicht zur sozialpartnerschaftliche Politik der IG BCE. Sie setzt eher auf Konsens mit dem Kapital als auf Konfrontation.

Im Herbst 2022 ist die IG BCE in den Tarifverhandlungen für die Chemieindustrie mit ihrem Abschluss vorgeprescht. Dieser war Vorreiter für den Einsatz der sogenannten „Inflationsausgleichsprämie“. Der Tarifabschluss beinhaltete neun Nullmonate, erst Anfang 2023 und Anfang 2024 soll es jeweils 3,25 Prozent geben, bei einer Laufzeit von 27 Monaten. Das bedeutet bei den hohen Inflationsraten, die wir in den Jahren 2022 und 2023 hatten und haben, hohe Reallohnverluste von über 10 Prozent. Anfang 2023 und Anfang 2024 gibt es die sozial- und steuerfreien Einmalzahlungen von jeweils 1.500 Euro, die den schlechten Abschluss verschleiern und den Widerstand gegen den Abschluss klein halten sollen. Diese Einmalzahlungen mindern die unmittelbaren Auswirkungen der Inflation insbesondere für niedrige Einkommen nur sehr wenig, an der langfristigen Lohnsenkung ändern sie gar nichts. Denn selbst wenn die Inflationsrate 2024 zurückgehen sollte – was alles andere als sicher ist – sinken die Preise nicht wieder auf das alte Niveau. Außerdem wirken sich die Prämien nicht auf Sonderzahlungen wie Urlaubs- und Weihnachtsgeld aus. Aus ihnen werden keine Rentenbeiträge abgeführt und wirken sich damit auch nicht auf die Rentenpunkte aus. Die „Inflationsausgleichsprämie“ kommt weder beim Krankengeld noch beim Arbeitslosengeld zum Tragen. Allen Sozialversicherungen wird Geld entzogen, dem Kapital wird es geschenkt. In die Erhöhung des Mindestlohns fließt die Prämie ebenso wenig ein wie in die Berechnung der Rentenerhöhung.

Was also bringt die „Inflationsausgleichsprämie“? Eine der vielen Zeitungen des Kapitals, das „Handelsblatt“, nannte offen deren Funktion: „Die dahinterstehende Hoffnung war, dass sich so hohe Tarifabschlüsse vermeiden lassen.“

Leider ist genau dies eingetreten. Im Herbst waren viele Millionen Beschäftigte in Tarifauseinandersetzungen: Allein 3,8 Millionen waren es in der Metall- und Elektroindustrie, 580.000 in der Chemieindustrie sowie etliche Hunderttausende in kleineren Branchen. Der Abschluss in der Chemieindustrie wurde in Rekordzeit vereinbart, um einen Pflock für die anderen laufenden Tarifrunden zu setzen. Alle folgenden Abschlüsse – sei es in der Metall- und Elektroindustrie, bei der Post, im Öffentlichen Dienst – griffen die Prämie auf, vereinbarten tabellenwirksame Erhöhungen weit unter der Inflationsrate, hatten bis zu 15 Nullmonate bis zur ersten Tabellenerhöhung sowie lange Laufzeiten von zwei Jahren und mehr.

Es gibt einen anderen Abschluss, an dem man sich hätte orientieren können: Die Hafenarbeiter in Norddeutschland hatten im Sommer 2022 nach kämpferischen Streiktagen einen Abschluss erzielt, der keine Nullmonate beinhaltet, sondern eine rückwirkende Lohnerhöhung. Die Tabellenwirksamkeit ist einigermaßen gut: Sie liegt zwischen 12 und 14 Prozent – je nach Bereich, allerdings mit einer Laufzeit von zwei Jahren. Aber es ist ein Sonderkündigungsrecht vereinbart worden, für den Fall, dass die Inflation im darauffolgenden Jahr (also 2023) immer noch so hoch ist.

Dem Kapital gefiel die sozialpartnerschaftliche Linie der IG BCE besser. Sie hatte bereits im April 2022 Einmalzahlungen vereinbart, statt tabellenwirksame Lohnerhöhungen zu fordern. Der Vorsitzende der IG BCE, Michael Vassiliadis, schrieb dazu auf der Homepage seiner Gewerkschaft: „So ist es uns beispielsweise mit unserem Zwischenergebnis in der Chemie-Tarifrunde im April gelungen, mit einer Einmalzahlung in Höhe von 1.400 Euro eine Brücke über das Tal der wirtschaftlichen Unsicherheit zu bauen, die die Belegschaften kurzfristig finanziell entlastet und die Unternehmen nicht überfordert.“

Tarifabschlüsse nach dem Vorbild der IG BCE haben zur Folge, dass Reallohnverluste zu verzeichnen sind wie seit Jahrzehnten nicht mehr. Unter Berücksichtigung der neu abgeschlossenen Tarifverträge und der in den Vorjahren für 2022 bereits vereinbarten Tariferhöhungen stiegen die Tarifvergütungen im Jahr 2022 nur um 2,7 Prozent, die Jahresinflation lag bei etwa 10 Prozent. Das Jahr 2022 stehe für den höchsten Reallohnverlust von Tarifbeschäftigten in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, lautet denn auch eine Auswertung vom Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Institut (WSI).

Zu hoffen ist, dass im Jahr 2023 die Reallöhne gehalten werden können. Die EVG scheint verstanden zu haben, dass es so nicht weitergehen kann. EVG-Tarifvorstand Cosima Ingenschay betont: „Wir wollen keine Laufzeiten von 24 Monaten oder länger, wir wollen auch keinen Inflationsausgleich. Wir wollen, dass unsere Kolleginnen und Kollegen dauerhaft mehr Geld haben und fordern deshalb 650 Euro mehr als soziale Komponente, alternativ 12 Prozent bei einer Laufzeit von 12 Monaten.“

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"Reallohnverlust per Tarif", UZ vom 28. April 2023



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