Dereinst sang die 2004 gegründete und leider nicht mehr sehr aktiv an der Realität mitarbeitende Londoner Punkband „Apologies, I Have None“: „My relationship with the reality? It comes and goes.“ Damit hätten sie eigentlich verdient gehabt, in den Soundtrack der ersten Realverfilmung der zur Puppe an sich gewordenen Barbie des US-amerikanischen Spielzeugkonzerns Mattel aufgenommen zu werden. Sich aber gegen kratzigen Melodic Hardcore zu entscheiden, bei dem man die flapsig gestochenen Gesichtstattoos der ihn spielenden Musikanten schnell raushört, ist eine Formfrage. Und die war eben schon für Barbie-Erfinderin Ruth Handler, in Greta Gerwigs Film von Rhea Perlman gespielt, maßgeblich.
Schließlich kommen Puppen einem rein äußeren Dasein der Leb- und Inhaltslosigkeit recht nahe. Einen Crashtest-Dummy gegen die Wand fahren zu lassen ist kein Mord. Seltsam bei all der Freiheit nur, dass die früher für den Individualgebrauch produzierten Puppen stets so designt wurden, dass sie das Äußere von Babys bekamen, um so das Spielen von Mutterschaft dem adressierten weiblichen Kind einfacher zu ermöglichen, anstatt etwa mit dem Ding sich identifizierend etwas anderes zu spielen, eine berufstätige Frau zum Beispiel. Handler wurde im Alpenurlaub auf das Manko gestoßen, als sie die „Bild-Lilli“ in einem Schaufenster in Luzern entdeckte, das Mannequin zu einer Comic-Reihe, die die bundesrepublikanische Variante des Frauenbildes widerspiegelte und dabei für Springer als verklemmtes Erotikabenteuer einen Extraprofit versprach. Nachdem ein Gros des männlichen Bevölkerungsteils an den Fronten verheizt worden war, musste sich die Mutterkreuzträgerin von ehedem zum Schmeißen des Haushalts dazu auch auf dem Arbeitsmarkt verdingen. „Lilli“ war die in Form gepresste bundesdeutsche Frau, die um ihren Platz als Angestellte wusste, dem schmierigen Männertraum entsprechend aber auch offen für Techtelmechtel war.
Wenn also Gerwig zu Beginn ihres Filmes als Ursprungsmythos Mädchen sieht, die ihre Babypuppen zerdeppern, dann ruht der offensichtliche Nicht-Babymord daher, dass mit der Barbie auch ein Ethos der Berufsfreiheit mitvermittelt wurde. Frauen sind mehr als Gebärmaschinen, wollen auch Abtreibungsgegner die Realität noch so sehr dahin verschieben.
Auch Barbie (Margot Robbie) mag zwar auf den ersten Blick der Inbegriff alles Weiblichen sein, wird aber keine Kinder gebären und großziehen; fehlende Genitalien und Asexualität sprechen dagegen. Sie und alle anderen Barbies und Kens in Gerwigs „Barbieworld“ sind den Puppen entsprechend nur Frauen und Männer auf der Oberfläche. Der biologische Naturalismus, wie alle wissen, die einmal eine Mattel-Puppe ihrer Kleider entledigt haben, pausiert zwischen Bauchnabel und Oberschenkeln. Das Matriarchat, das dadurch herrscht, dass Ken eben der ewige Sidekick eines an Mädchen adressierten Franchises ist, ist dementsprechend so echt wie falsch: Einen Ryan Gosling mit penetrant offenem Hemd zur Ausstellung seines Sixpacks kann man schwerlich anders sehen als den Inbegriff des Mannes à la Hollywood und trotzdem ist er kreierte Realität als das, was man entsexualisiert einem präpubertären weiblichen Publikum als idealen Freund der vielfältig fachkräftigen Barbie präsentiert. „Es gibt nur Barbie und Ken“, sagt das Anhängsel Ken, das gegenüber der Dominanten stets hintansteht. Die hat im Film plötzlich reale wie für sie als Spielsache irreale Sorgen: Cellulite und Angst vor dem Tod. Aus der Barbieworld geht es in die Menschenwelt, um dem auf den Grund zu gehen; Sidekick Ken nimmt daraus aber einzig das Schlechte der Besten aller möglichen Welten mit: Patriarchale Blödmannspolitik.
Zurück im pinken Paralleluniversum führt er die im paradiesischen Verblendungszusammenhang steckenden Püppchen dementsprechend nicht ans Licht, sondern tiefer in die Höhle hinein: Aus dem Plastik-Matriarchat wird schwuppdiwupp ein Männerstaat samt einer in Windeseile installierten faschistischen Struktur, über dessen neue Verfassung einzig die Kens entscheiden. Viel für die der jungen Bundesrepublik entstammende Barbie, die sich erstmals beweisen muss.
So sehr Gerwig Ideologie platt als Puppenspiel vermittelt, das einfach dadurch wirkt, indem man es vorspielt, ist „Barbie“ doch eine realitätsbildende Maßnahme. Zu sagen, dass Geschichte und Gegenwart vom Menschen gestaltete Realitäten sind, ist vielleicht nicht die revolutionärste, aber doch eine revolutionäre Tat.
Barbie
USA 2023
Regie: Greta Gerwig
Unter anderem mit Margot Robbie, Ryan Gosling, America Ferrera und Ariana Greenblatt
Im Kino