Ukrainische Offensive: Eine „immense Wette“

Realisten fordern Plan B

Kolumne

„Die Ukraine ist ungenügend vorbereitet auf ihre große Offensive, aber sie hat keine Wahl“, schreibt Mark Galeotti in der Londoner „Times“ (30. April). Präsident Selenski habe den Westen geschickt gemanagt, aber in Washington erwarte man nun einen „Return“ (Rückfluss) aus der Investition. Die Erfolgsaussichten sieht Galeotti nüchtern. Mehr als „bescheidene Gebietsgewinne“ werde die Offensive nicht erzielen. Russland sei vorbereitet. Galeottis Anflug von Realismus steht nicht allein. „Bidens Team fürchtet die Nachwirkungen einer verfehlten ukrainischen Gegenoffensive“, verrät ein Titel in „Politico“. Eine Headline der „New York Times“ nennt die Offensive eine „immense Wette“ auf den künftigen Kriegsverlauf (beides 24. April).

Gelände gewann die ukrainische Armee zuletzt im Herbst 2022 in Charkow und Cherson. Der Anschlag auf die Krimbrücke am 8. Oktober 2022 steigerte den Siegestaumel. Schon da war von der „Gegenoffensive“ zur Rückeroberung der Krim die Rede. Auf russischer Seite kündigte General Surowikin damals einen Abnutzungskrieg an. Er zielt nicht primär auf Geländegewinne, sondern auf die Erschöpfung des Gegners. Die Streitkräfte der RF hielten danach nicht nur die Stellungen, sondern rückten langsam gen Westen vor, nahmen weitere Orte im Donbass sowie die Stadt Soledar ein und stehen nun vor der Einnahme des lange umkämpften Bachmut.

Im Abnutzungskrieg arbeitet die Zeit für die Seite mit den größeren Ressourcen und den geringeren Verlusten. Das ist in diesem Krieg Russland. NATO-Medien bezeichnen die Lage nach dem Herbst 2022 als „Pattsituation“, ein Euphemismus, der suggerieren soll, es ändere sich nichts. Real ist die ukrainische Armee heute viel schwächer als zu Kriegsbeginn. Sie muss große Verluste durch ständige Rekrutierungen, zunehmend auch sehr junger und alter Männer, ausgleichen. Ausrüstung mit teils veralteten Waffen wird in aller Welt zusammengekratzt. Für adäquates Training fehlt die Zeit. Viele Soldaten beklagen Versorgungsmängel und Korruption.

Über den Zustand der russischen Streitkräfte sagt NATO- und EUCOM-Kommandeur General Cavoli, sie seien „in großen Teilen vom Ukraine-Krieg nicht berührt“. Die Bodentruppen seien trotz großer Verluste und verminderter Lagerbestände weiter fähig, sich zu regenerieren. Richard Haass und Charles Kupchan vom Council on Foreign Relations schreiben in „Foreign Affairs“: „Selbst, wenn der Westen die militärische Hilfe hochfährt, läuft die Ukraine Gefahr, hinter siegende russische Kräfte zurückzufallen. Soldaten und Munition gehen ihr aus, ihre Ökonomie erodiert. Die Russen haben sich eingegraben und frische Rekruten machen sich auf den Weg zur Front.“ (13. April)

Haass und Kupchan fragen, was nach der „Gegenoffensive“ kommen soll. Sie fordern einen Plan B, der den USA ermöglicht, das Ukraine-Problem hinter sich zu lassen. Gewiss seien russische Zugewinne zu minimieren. Aggression dürfe sich nicht auszahlen. Doch das sei gegen andere Prioritäten abzuwägen. „Die Realität ist, dass dauerhafte großangelegte Hilfe für Kiew umfassendere strategische Risiken mit sich bringt. Der Krieg erschöpft die Verteidigungsbereitschaft des Westens und seine Lagerbestände an Waffen; die industrielle Basis der Verteidigung kann mit dem Verbrauch der Ukraine an Rüstung und Munition nicht mithalten.“

Haass und Kupchan fürchten, die USA könnten die Herausforderung China und andere Weltregionen vernachlässigen, wenn sie sich in der Ukraine verzetteln. Sie sehen destabilisierende Folgen für die globale Ökonomie und Politik: „Vom Ukraine-Krieg strahlt Unordnung nach draußen aus.“ Stimmen des Realismus könnten in den USA weiter an Gewicht gewinnen, da mit Robert F. Kennedy Junior ein rational argumentierender Gegner der Neocons und des Ukraine-Kriegs zur Präsidentschaftswahl 2024 antritt. Der Druck auf Biden, das Thema loszuwerden, wächst.

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"Realisten fordern Plan B", UZ vom 12. Mai 2023



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