Argumente vom Bundesausschuss Friedensratschlag gegen die Stationierung von US-Raketen

Reaktion auf russische Bedrohung?

Bundesausschuss Friedensratschlag

Der Bundesausschuss Friedensratschlag veröffentlichte in diesem Monat ein Positionspapier unter dem Titel „Nein zu US-Mittelstreckenwaffen in Deutschland“. Auf zwölf Seiten setzen sich die Autorinnen und Autoren darin mit den Argumenten der Befürworter auseinander und kommen zum Schluss: „Es ist eine brandgefährliche Entwicklung.“ Es brauche Aufklärung und „Widerstand gegen dieses existenzgefährdende Vorhaben der deutschen Regierung“. Wir dokumentieren – redaktionell geringfügig bearbeitet – einen Auszug aus dem Papier, welches in voller Länge online unter uzlinks.de/raketen zu finden ist.

Aus einem Bericht der „Neuen Zürcher Zeitung (NZZ)“: „Die USA reagieren damit auf die Entwicklung und Stationierung von Mittelstreckenwaffen durch Moskau. Russland hat als erstes Land mit der Wiederaufrüstung in diesem Bereich begonnen. Es verfügt über Marschflugkörper, die vom Vorposten Kaliningrad aus fast ganz Europa erreichen können einschließlich Berlin, Paris und London. Die Stationierung der Marschflugkörper SSC-8 ab 2017 stand am Anfang der jetzigen Entwicklung. Weil diese russischen Waffen mit einer Reichweite von mindestens 2.000 Kilometern gegen den Abrüstungsvertrag INF (Intermediate-Range Nuclear Forces Treaty) verstieß, stiegen die USA 2019 aus dem Abkommen aus. Zu jenem Zeitpunkt hatte Russland heimlich offenbar bereits 64 Mittelstreckenwaffen stationiert.“

Raketen in Kaliningrad?

2008 bereits drohte Russland, in Kaliningrad Iskander-Raketen aufzustellen, falls die USA in Polens Norden und in Rumänien Raketenabwehrsysteme des Typs SM-3 errichten sollten. Die USA behaupteten, diese seien gegen (bis heute nicht entwickelte) iranische Langstreckenraketen gerichtet, was Russland als Vorwand und somit als Provokation wertete. Sie bedrohten seine nukleare Zweitschlagsfähigkeit. Barack Obama stoppte im September 2009 das US-Vorhaben, Russland verzichtete auf die Stationierung in Kaliningrad. Im Juli 2010 jedoch unterzeichnete US-Außenministerin Hillary Clinton mit Polens Außenminister Radoslaw Sikorski eine Übereinkunft, in Redzikowo (unweit von Polens Ostseeküste) ein Raketenabwehrsystem des Typs SM-3 errichten zu wollen. 2013 wurde bekannt gegeben, dass es sich um 24 Raketen des Typs SM-3 Block IIA handeln soll, die 2018 aufgestellt sein sollten. Diese US-Abwehrrakete ist sowohl gegen iranische als auch gegen russische Interkontinentalraketen (ICBMs) einsetzbar, weil sie über eine Reichweite von 1.200 Kilometern und eine Flughöhe von bis zu 1.050 Kilometern verfügt. Der Iran verfügt über keine ICBMs, Russland schon. Russland begann ab 2013 damit, vorübergehend Iskander-M-Raketen in Kaliningrad zu stationieren, die gegen die US-Installation in Redzikowo gerichtet sind. Seit Mai 2018 ist im Stationierungsort Tschernjachowsk in der Oblast Kaliningrad (gut 300 Kilometer östlich von Redzikowo gelegen) eine Brigade mit 12 Raketen des Typs 9M723 dauerhaft stationiert. Die Reichweite der Rakete wird mit 480 bis 500 Kilometern angegeben. Sie kann einen konventionellen oder einen nuklearen Sprengkopf tragen. Die USA haben seit Dezember 2023 die Station in Redzikowo in Betrieb und diese auf dem NATO-Gipfel in Washington im Juli 2024 an die NATO übergeben. Von einer Stationierung russischer Marschflugkörper in Kaliningrad, wie sie die „NZZ“ behauptet, ist nirgendwo die Rede.

Fehlende Dialogbereitschaft der USA

Der 1988 in Kraft getretene INF-Vertrag legte fest, dass die beiden Vertragsparteien USA und So­wjet­union ihre an Land stationierten nuklearen Kurz- und Mittelstreckenwaffen mit Reichweiten zwischen 500 und 5.500 Kilometern verschrotten. Sie und ihre Abschussrampen wurden bis 1991 ebenso zerstört wie ihre Infrastruktur. Der INF-Vertrag verbot ihre Wiedereinführung, Flugerprobung, Produktion und Depotlagerung. Das galt gleichermaßen für nuklear und konventionell bestückte Raketen und Marschflugkörper, die an Land stationiert werden, und deren Startanlagen. Allerdings gestattete der Vertrag Testflüge von fest installierten Rampen aus, sogar mit unerlaubten Reichweiten, wenn diese Flugkörper später nicht an Land aufgestellt wurden.

Der Vertrag galt weltweit für die USA und die So­wjet­union (und ihre Nachfolgestaaten) – für sonst niemanden. Bis 2001 noch hatte es Inspektionen gegeben, die seine Einhaltung überwachten – seitdem nicht mehr. Es gibt im Vertrag einen Streitschlichtungsmechanismus, der aber nicht angewendet wurde.

Die Ankündigung im Oktober 2018 vom damaligen US-Präsidenten Donald Trump, den Vertrag zu verlassen, kam überraschend, denn die NATO hatte noch im „Juli 2018 (…) einmütig erklärt, der INF-Vertrag sei für die europäische Sicherheit von grundlegender Bedeutung und müsse erhalten bleiben“. Russland wurden Vertragsverletzungen vorgeworfen und Moskau wurde Anfang Oktober 2018 von den NATO-Verteidigungsministern aufgefordert, den Vertrag einzuhalten und offene Fragen transparent zu klären. Am 22. Oktober 2018 bekundete der russische nationale Sicherheitsberater, Nikolai Patruschew, in Anwesenheit seines US-Gegenübers, John Bolton, „in aller Offenheit zur Klärung der Sachlage beitragen“ zu wollen. Die USA haben das russische Angebot einer Klärung nicht aufgegriffen. Stattdessen wurde Russland noch zwei Monate Zeit gegeben, seine SSC-8- beziehungsweise 9M729-Marschflugkörper zu verschrotten, damit die USA im Vertrag bleiben können. Russland kam der Aufforderung nicht nach. Die USA kündigten den Vertrag dann einseitig am 2. Februar 2019. Russland zog daraufhin nach. Den INF-Vertrag gibt es seit dem 2. August 2019 nicht mehr. Russland hatte sich für seinen Erhalt ausgesprochen, obwohl es den USA seinerseits zahlreiche Vertragsverstöße vorwarf.

Was waren die US-Vorwürfe gegenüber Russland? Im Wesentlichen der, dass Russland angeblich seit 2007 einen landgestützten Marschflugkörper mit verbotener Reichweite teste. Ende November 2018 konkretisierte der damalige US-Geheimdienstkoordinator die Vorwürfe. Demnach hätte Russland zwei Tests auf seinem Testgelände Kapustin Jar durchgeführt. Einmal von einem festen Startgerät aus, mit einer Reichweite von deutlich über 2.000 Kilometern. Das war durchaus vom INF-Vertrag gedeckt gewesen, wenn der Flugkörper anschließend nicht an Land stationiert wird. Der zweite Test sei von einer mobilen Startanlage erfolgt, die Reichweite habe hier deutlich unter 500 Kilometern gelegen. Auch das war erlaubt. In beiden Fällen habe es sich aber um dieselbe Rakete gehandelt, behaupteten die USA. Folglich habe man daraus unzulässige Vergleiche für die Nutzung von beweglichen Startrampen ziehen können. Das werfen die USA den Russen als Vertragsbruch vor. Allerdings fehlen öffentliche Belege für die Flüge und auch darüber, dass es sich um denselben Flugkörper gehandelt habe. Die USA hatten lediglich den Außenministern der NATO-Staaten im November 2018 einen Satellitenfilm vorgeführt, „der die Flugbahn eines landbasierten Marschflugkörpers SSC-8 mit einer Reichweite von weit mehr als 500 Kilometern dokumentiert“. So der „Spiegel“ damals. Und weiter: „Die Bundesregierung bewertet die Beweise nach einer Analyse des BND als überzeugend.“ Das kann man glauben oder nicht. Anfang Dezember 2018 machte sich die NATO die US-Version zu eigen. Russland bestritt die Vorwürfe.

Einladungen an USA und NATO, die inkriminierten Marschflugkörper in Augenschein zu nehmen und zu untersuchen, kamen die USA nicht nach.

Der „Spiegel“ schildert das sehr anschaulich: „Die Russen hatten am Dienstag (15. Januar 2019 – die Verfasser) in Genf angeboten, ihren Marschflugkörper SSC-8 vor Ort zu begutachten. (…) Jon Wolfsthal zufolge, einst Abrüstungsberater von Barack Obama, ist das Angebot ‚ein großer Fortschritt‘. Auch Obamas ehemalige Topdiplomatin Alexandra Bell sieht darin eine Möglichkeit. Doch die US-Delegation lehnte ab. (…) Robert Schmucker, ehemaliger UNO-Waffeninspekteur, und Wolfgang Richter, früher Verifikationsexperte der Bundeswehr, halten eine Vor-Ort-Inspektion für ausreichend, um diesen großen Unterschied (gemeint sind 480 zu über 2.000 Kilometern Reichweite – die Verfasser) zu klären. Dazu müsse man bloß Länge und Durchmesser der SSC-8 kennen.“ Die USA lehnten Vor-Ort-Inspektionen ab und kamen nicht.

Die USA gaben vier angebliche Stationierungsstandorte der SSC-8 in Russland bekannt: Die „Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung“: „Jedes der vier Bataillone verfügt über vier Startfahrzeuge auf Rädern, die jeweils vier Raketen abschießen können – ergibt zusammen 64 Stück.“ Russland gibt zu, dass es über diesen Flugkörper verfügt, gibt seine Reichweite aber mit 480 Kilometern an, was der INF-Vertrag erlaubte. Die Frage stellt sich: Warum nutzten die USA die Angebote der Russen nicht?

Was folgte?

Trumps Ankündigung vom Oktober 2018, den Vertrag zu kündigen, zeigte schon die Richtung an. Die „Zeit“ zitierte Trump damals: „Wir werden die Vereinbarung beenden, und dann werden wir die Waffen entwickeln“, sagte der US-Präsident. „Wir werden es nicht zulassen, dass sie ein Nuklearabkommen verletzen“ und sich Waffen zulegen, „während es uns nicht erlaubt ist“, sagte Trump.

Angesichts dieser US-Drohung kündigte Russland Anfang Februar 2019 konkret symmetrische Gegenmaßnahmen an: die Entwicklung einer Landvariante des seegestützten Marschflugkörpers Kalibr. Kalibr ist konventionell oder nuklear bestückbar und fliegt seegestützt bis zu 2.600 Kilometer weit. Der Bau sei für 2019 oder 2020 geplant, sagte der damalige russische Verteidigungsminister Sergej Schoigu im Februar 2019. Hinzu komme die Entwicklung einer hyperschallschnellen Mittelstreckenrakete. Allerdings würden diese neuen Waffen erst dann aufgestellt, nachdem die USA ihre Systeme aufgestellt hätten. Ansonsten sei Moskau unverändert gesprächsbereit.

Im Februar 2019 dokumentierte die ARD-Sendung „Monitor“ ein Papier, worin der US-Kongress schon im Jahr 2017 bewilligte, „einen konventionellen bodengestützten Marschflugkörper zu entwickeln“ – und zwar „ausdrücklich einen konventionellen“. Allerdings habe Bolton, der damalige Nationale Sicherheitsberater von US-Präsident Trump, aus einem Memo vom Dezember 2018, so „Monitor“, das Wort „konventionell“ gestrichen. Das heißt, Bolton eröffnete die Möglichkeit für eine nukleare Variante.

Im März 2019 berichtete der „Spiegel“, die USA hätten „begonnen, landgestützte konventionelle Marschflugkörper mit Reichweiten über 500 Kilometern zu bauen“ und „angekündigt, im August erste Testflüge mit dem neuen Marschflugkörper durchführen zu wollen“. Und genau das erfolgte am 18. August 2019 – 16 Tage nach Ende des INF-Vertrages. Ein Tomahawk-Marschflugkörper wurde von einer an Land aufgestellten Vorrichtung des Typs MK41 aus gestartet. Er flog mehr als 500 Kilometer weit und traf das Ziel genau. Die US-Zeitung „The Hill“ gibt seine Reichweite mit 1.000 Kilometern an.

Der Ablauf macht deutlich, dass es den USA bei den Vorwürfen von angeblichen Vertragsverletzungen gegen die russische Seite nicht darum ging, den INF-Vertrag zu retten, sondern Vorwände zu haben, ihn zu kündigen. Das machte den Weg für die Entwicklung von präzisen Mittelstreckenwaffen frei, die nun auf dem Globus verteilt gegen aus Sicht der USA unbotmäßige Regime in Stellung gebracht werden können.

Die russische Seite hat erklärt, dass sie den NATO-Ankündigungen, nur konventionell aufzurüsten, nicht glaubt, sondern unterstellt der NATO Pläne zur nuklearen Bewaffnung. Die russische Seite hat angekündigt, dass sie ausschließlich nuklear antworten werde, weil sie nicht vorhersagen könne, welche Gefechtsköpfe montiert seien – ob konventionelle oder nukleare. Am selben Tag noch, am 28. Juni 2024, als der erste erfolgreiche Dark-Eagle-Test bekannt wurde, kündigte der russische Präsident Wladimir Putin an, dass er die Produktion von atomwaffenfähigen Kurz- und Mittelstreckenraketen wieder aufnehmen werde, um dann zu überlegen, wo sie stationiert werden sollen.

Das bedeutet: Wer glaubt, durch die Stationierung von Mittelstreckenwaffen gegen Ziele in Russland Deutschland und Europa dem Frieden ein Stück näherzubringen, unterliegt einem Irrtum. Im Gegenteil: Die Gefahr eines gegenseitigen Aufrüstens wurde damit initiiert – mit dem Potenzial, weiter bis zu einem Atomkrieg zu eskalieren.

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"Reaktion auf russische Bedrohung?", UZ vom 11. Oktober 2024



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