Französische Ex-Militärs kritisieren neuen Plan „NATO 2030“ und falsche Gegnerschaft unter US-Kommando

Raus aus der Vormundschaft

Am 14. Juni kommen in Brüssel die Staats- und Regierungschefs der NATO zum Gipfel des Militärpakts in Brüssel zusammen. Es ist das erste Treffen mit US-Präsident Joseph Biden und je näher es rückt, desto lauter und aggressiver die rhetorische Aufrüstung gegen Russland und China. NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg gab in der „Welt am Sonntag“ die Marschrichtung vor: „Wir stellen fest, dass Russland und China neuerdings immer stärker zusammenarbeiten, sowohl politisch als auch militärisch.“ Das sei eine „neue Dimension und eine ernsthafte Herausforderung“. Teil der neuen NATO-Agenda mit dem Titel „NATO 2030“ werde daher auch eine engere Zusammenarbeit mit den Ländern im pazifischen Raum sein, die „für gemeinsame Werte wie Freiheit, Menschenrechte und Multilateralismus einstehen“, so Stoltenberg. Zuvor hatte der NATO-Chef bei einer Veranstaltung der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP) und dem Thinktank Brookings Institution die Volksrepublik offensiv attackiert und behauptet, China versuche auch in NATO-Ländern die Kontrolle über kritische Infrastruktur zu erlangen. Zudem behindere das Land die Freiheit der Schifffahrt im Südchinesischen Meer und bedränge Nachbarn. China und Russland führten eine autoritäre Gegenbewegung gegen die regelbasierte internationale Ordnung, wetterte Stoltenberg weiter.

Von den Mitgliedsstaaten will der NATO-Chef höhere Militärausgaben für den Pakt, wofür er von der deutschen Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer (CDU) bereits Unterstützung bekommen hat. Der Gipfel in Brüssel sei „eine historische Möglichkeit“, um die Bindung an die USA zu stärken und „unsere Allianz auf eine unberechenbarere und stärker umkämpfte Welt vorzubereiten“, beschwor Stoltenberg schließlich die transatlantische Militärallianz unter Führung der USA. Der Oberkommandierende Biden verlautete derweil in der „Washington Post“: „Wir stehen zusammen, um auf die Bedrohung der europäischen Sicherheit durch Russland zu reagieren, angefangen mit seiner Aggression in der Ukraine.“ Es werde „keinen Zweifel an der Entschlossenheit der USA geben, unsere demokratischen Werte zu verteidigen, die wir nicht von unseren Interessen trennen können“.

Die Frontstellung gegen Russland und China unter US-Kommando stößt im „alten Europa“ auf Kritik und Widerstand. Im Unterschied zur Gefolgschaft der Bundesregierung ist die französische Führung nicht ohne weiteres bereit, den NATO-Etat zu erhöhen. Mitte März hatte sich der „Cercle de réflexion interarmées“, ein Zusammenschluss von Generälen und Offizieren der französischen Landstreitkräfte, Marine und Luftwaffe im Ruhestand, mit einem offenen Brief an NATO-Generalsekretär Stoltenberg zu Wort gemeldet. Die Militärs warnen darin ausdrücklich, die engere politische Kooperation in der NATO laufe vor allem darauf hinaus, Europa in dauerhafte Gegnerschaft zu Russland zu bringen und es faktisch „unter amerikanische Vormundschaft“ zu stellen. Sollte Stoltenbergs Plan „NATO 2030“ von den 30 Mitgliedsstaaten angenommen werden, würde dies einen fast unumkehrbaren Schritt in der strategischen Unterordnung Europas und Frankreichs unter das amerikanische Hegemoniestreben bedeuten, so ihr Urteil. Die gesamte Neuausrichtung der NATO basiere auf dem Paradigma einer doppelten Bedrohung, einer angeblich akuten russischen und einer in der Zukunft möglichen chinesischen. Der Plan „NATO 2030“ werde als friedliches Dokument präsentiert, sei aber „voller böswilliger Absichten“. Dazu zählen die Autoren die „unerschütterlich betriebene Desinformation“ und Instrumentalisierung einer „russischen Bedrohung“. Diese sei von „langer Hand geschaffen“ worden und werde nun aufrechterhalten, „um den europäischen Verbündeten endlich Beine zu machen, sich hinter den Vereinigten Staaten in Stellung zu bringen – mit Blick auf den bevorstehenden Kampf mit China um die Welthegemonie“.

Der „Cercle de réflexion interarmées“ kritisiert im Brandbrief an Stoltenberg die seit 20 Jahren währenden Bemühungen der NATO, Russland zum Feind zu machen und von Europa zu trennen. Das Schreiben ruft präzise die militärischen Realitäten in Erinnerung: Russland sei mit seinem Militärhaushalt von 70 Milliarden Euro in keiner Weise eine Bedrohung für die NATO mit einem Etat von 1.000 Milliarden Euro, von denen 250 Milliarden Euro von den europäischen Ländern im Bündnis aufzubringen seien. Eigentliches Anliegen des neuen Konzepts „NATO 2030“ sei die Einbeziehung des transatlantischen Bündnisses in den Kampf um die Weltherrschaft, der zwischen China und den Vereinigten Staaten ausgetragen werden solle. Das Schreiben schließt mit dem Appell an Stoltenberg, „diesen verrückten Zug zum Stehen zu bringen, bevor es zu spät ist“. Frankreich jedenfalls könne diesem „abenteuerlichen Konzept“ niemals zustimmen, das Europa unter amerikanische Vormundschaft stellen wolle.

Allem Konfrontationsgetöse von Stoltenberg und Co. zum Trotz wünscht sich auch eine überwältigende Mehrheit in Deutschland eine engere Zusammenarbeit mit Russland. Laut einer aktuellen Forsa-Umfrage sprechen sich 62 Prozent für intensivere Beziehungen zwischen der Europäischen Union und Russland aus, 67 Prozent für die Schaffung eines gemeinsamen Wirtschaftsraums von Lissabon bis Wladiwostok. Die Erhebung im Auftrag des Ostausschusses der Deutschen Wirtschaft und der Wintershall AG ist in den großen Medien ebenso totgeschwiegen worden wie die NATO-Kritik der französischen Ex-Militärs.

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"Raus aus der Vormundschaft", UZ vom 11. Juni 2021



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