Nach mehr als zwölf Jahren oder 4.450 Tagen wird Netanjahu voraussichtlich sein Amt als israelischer Ministerpräsident verlieren. Oppositionsführer Jair Lapid von Jesch Atid („Es gibt eine Zukunft“) gelang es, eine Koalition aus acht Parteien zu bilden. Die unwahrscheinliche Koalition umfasst ein breites politisches Spektrum von der weit rechtsstehenden Jamina über die sozialdemokratische Meretz bis zur „Vereinigten Arabischen Liste“ Ra’am. Ministerpräsident soll zunächst nicht der Oppositionsführer Jair Lapid werden, sondern Rechtsaußen Naftali Bennett. Seine Partei erhielt bei den Wahlen im März nur 6 Prozent der Stimmen.
Die Koalition verspricht eine Regierung des Wandels. Und das heißt nicht mehr als: eine Regierung ohne Netanjahu. Viele der vorgesehenen Minister und Ministerinnen waren bereits Teil einer Regierung Netanjahu. Benny Gantz, der die Siedlungen auf der Westbank stärken will; Avigdor Lieberman, der 2018 zurücktrat und einen Waffenstillstand mit Gaza als Kapitulation vor dem Terror bezeichnete; Gideon Sa‘ar, der vergeblich Vorsitzender des Likud werden wollte und danach die Partei „Neue Hoffnung“ gründete; oder Ajelet Schaked aus der Jamina.
Neu ist der Versuch einer Modernisierung der israelischen Gesellschaft. Zu den Forderungen von Jesch Atid gehören die Einführung der Zivilehe, öffentlicher Nahverkehr auch an Samstagen, mehr Rechte für die LGBTQ-Community. Neu ist auch die Teilnahme der islamistischen Partei Ra’am unter dem Vorsitz von Mansour Abbas.
Ra’am hatte das Bündnis mit linken arabischen Parteien im Januar verlassen. Für die konservative Partei und ihren Vorsitzenden Abbas stand Netanjahu näher. Abbas bot Netanjahu Unterstützung und Zusammenarbeit an, legte sich aber nicht fest. Während der elftägigen Kämpfe zwischen Gaza und Israel blieb das Projekt einer Regierungsteilnahme von Ra’am völlig im Hintergrund. Doch danach brauchte Jair Lapid die Stimmen von Ra’am unbedingt – und erhielt sie.
Für Ra’am und Abbas ist die Unterstützung der Regierung von Bennett und Lapid ein gewagtes Experiment. Während die Regierungsteilnahme von Ra’am für Integration und Akzeptanz steht, sieht die Realität vor Ort anders aus. 1.600 Personen wurden bei Protesten und Auseinandersetzungen Mitte Mai in Israel verhaftet. Weitere 532 wurden nach dem Waffenstillstand im Zuge der Operation „Law and Order“ von Polizei und Geheimdienst Shin Bet festgenommen. Die meisten von ihnen waren israelische Araber.
Der Geheimdienst sieht die Spannungen damit noch nicht beendet. Verteidigungsminister Gantz verlangt, den provokativen „Flaggenmarsch“ radikaler Siedler durch Jerusalem erneut zu unterbinden. Er würde den aktuellen politischen Prozess stören. Rechte Knesset-Abgeordnete wollen ihn – gestützt auf ihre Immunität – dennoch durchführen.
Und der Chef des Shin Bet, Nadav Argaman, warnte davor, die Gewaltaufrufe gegen die neu zu bildende Regierung könnten zu einem Blutbad führen. Dazu gehören Aufrufe von Evangelikalen in den USA, für die Netanjahu eine Art Messias war.
Die Knesset-Abgeordnete Aida Touma-Suleiman von Chadasch und ein führendes Mitglied der Kommunistischen Partei Israels warnten, Bennett führe eine gefährliche rechtsgerichtete Regierung an. Diese Regierung würde Netanjahu ersetzen, aber seine Politik fortsetzen.
Netanjahu hofft noch auf Abtrünnige aus den Koalitionsparteien, die seine Abwahl verhindern, und warnt vor einer „linken Regierung“. Doch für das Bündnis des künftigen Ministerpräsidenten Bennett ist der Name Programm: „Jamina“, auf Deutsch: „Nach rechts“.