Vor 75 Jahren starb Egon Erwin Kisch

Rasender Reporter in rasender Zeit

„Egonek, das schreibe ich der Mama“, soll Kischs älterer Bruder Paul, damals Redakteur der „Neuen Freien Presse“ in Wien, ausgerufen haben, als der Jüngere im 1918er Revolutionsjahr mit seinen Rotgardisten die Redaktion besetzte. Eine variantenreich erzählte, aber unbewiesene Anekdote. Sei es drum, sie wäre eh nur eine Petitesse, bedenkt man, wie viel Erregendes es fortan über Egon Erwin Kischs Leben und Schreiben der Mama und Generationen hernach zu berichten gab.

Egon Kisch (Erwin ist ein später zugelegtes Pseudonym) wurde am 29. April 1885 in Prag geboren. An der heutigen Melantrichova wuchs ein Knabe auf, dessen enorme Beobachtungs- und Schreibbegabung von den Erschütterungen seiner Zeit ein lebenswahres Zeugnis ablegen und die Massenwirkung linksgeschriebener „operativer“ Literatur unter Beweis stellen sollte. Am 31. März 1948 in Prag gestorben, gaben ihm Tausende das Geleit. „Schriftsteller und Journalist“ steht schlicht auf seinem Grabstein. Wer wissen will, wer er war, muss ihn lesen.

Sechs Jahrzehnte Lebenszeit. Es ist unglaublich, wie viele Merksteine der Zeitgeschichte sich darin drängten, wie viele Schauplätze Kisch aufsuchte, um ferne Urteile zu überprüfen, Zeugen zu interviewen und eine verlässliche Sicht auf nationale und Epochefragen auszubreiten.

Wie der Egon zum Erwin kam

Aufsässig war Kisch schon in der Schulzeit. Um ein der Schülerschaft auferlegtes Publizierverbot in der Presse zu umgehen, veröffentlichte er Gereimtes unter dem Pseudonym Erwin, das sich fortan vom Geburtsnamen Egon nicht mehr lösen sollte. Als Volontär im deutschsprachigen „Prager Tagblatt“, vor allem aber als Reporter der Zeitung „Bohemia“, schilderte er soziale Missstände an den Abgründen der bürgerlichen Gesellschaft, schrieb über Prags Unterwelt samt ihren Höllen voll Armut, Verbrechen und Prostitution. Aus Anklage der Verhältnisse sollte Parteinahme für die gesellschaftsverändernde Kraft, das Proletariat, wachsen. Unermüdlich in seiner Erlebnis- und Schreibwut, wurde er das in Person, womit einer seiner Reportagebände titelte: „Der rasende Reporter“. Kisch schloss Bekanntschaft mit Wiegler, Rilke, Brod, Kafka und Hašek, mit dem er ein Lustspiel („Die Reise um Europa in 365 Tagen“) verfasste. Besondere Beachtung erwarb er sich durch seine Enthüllungen um die „Affäre Redl“ (Mai 1913). Kurz vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs arbeitete Kisch für das „Berliner Tageblatt“, war kurzzeitig in der Nachfolge von Gerhart Hauptmann Dramaturg am Berliner Künstlertheater. Im Sommer 1914 wurde er eingezogen. An der russischen Front erlitt er schwere Verwundungen. Obwohl noch im k. u. k Kriegspressequartier eingesetzt, suchte er Kontakte zur organisierten Arbeiterjugend Wiens und wurde Komitee-Mitglied zur Gründung eines illegalen Arbeiter- und Soldatenrates. 1918 war er zeitweilig Kommandeur der Roten Garde. Die Monarchie stürzte. Kisch wurde Mitglied der KP Österreichs. 1921 übersiedelte er nach Berlin, wo er bis 1933 seinen Hauptwohnsitz hatte und 1925 in die KPD eintrat. Seit 1926 schrieb er regelmäßig für Münzenbergs A. I. Z.

Kischs Besichtigung der Welt

Die Jahre der Weimarer Republik waren für Kisch eine Zeit wichtiger Auslandsreisen. Seine Recherchen speisten einen Großteil seiner berühmt gewordenen Reportagen. Nach Aufenthalten in der Sowjetunion entstanden Schilderungen der gewaltigen Umwandlungen („Zaren, Popen, Bolschewiken“) und eine aktuelle Beschreibung der Entwicklungsperspektiven, die den zentralasiatischen Sowjetrepubliken eröffnet wurden („Asien gründlich verändert“). In „Paradies Amerika“ nahm er sich kritisch die Entwicklungen in den USA vor. Auf seiner Reise traf er Charlie Chaplin und Upton Sinclair. Im letzten Reportageband, der kurz nach dem Machtantritt der Nazis in Deutschland noch erscheinen konnte („China geheim“), breitete Kisch seine Beobachtungen im Reich der Mitte aus, das durch japanische Interventionen bedroht wurde. Als die Nazis den Reichstag anzündeten, befand sich Egon Erwin Kisch in Berlin. Als KPD-Mitglied und Autor der „Roten Fahne“, als Sympathisant der Sowjetunion und Teilnehmer am Charkower Weltkongress Revolutionärer Schriftsteller wurde er noch in der Brandnacht verhaftet, später auf Grund tschechoslowakischer Proteste freigelassen und in die CSR ausgewiesen. Unermüdlich engagierte er sich fortan im Kampf gegen Hitlers Barbarei. Auf dem Antifaschistischen Arbeiterkongress Europas in Paris, wo er die Bücherverbrennung auf dem Berliner Opernplatz anprangerte, bei Aufenthalten in Belgien und den Niederlanden, auf dem Ersten Internationalen Schriftstellerkongress zur Verteidigung der Kultur in Paris und dem Zweiten in Madrid, als Berichterstatter vom Kampf der Interbrigadisten (1937/38) oder im mexikanischen Exil (ab 1940), wo er an der Zeitung „Freies Deutschland“ mitarbeitete und Anna Seghers‘ Vizepräsident im dortigen Heinrich-Heine-Klub war.

„Landung“ in Australien

Eine Episode aus dem Jahr 1934 ist besonders erzählenswert. Sie betrifft seine „Landung“ in Australien. Kisch war als Delegierter des Weltkomitees gegen Krieg und Faschismus zu einem Antikriegskongress nach Melbourne eingeladen worden. Trotz seines gültigen Visums wurde ihm die Einreise verweigert. Also verließ er das Schiff mit einem Sechsmetersprung relingabwärts, brach sich das Bein, wurde erneut aufs Schiff verfrachtet und kam erst in Sydney wieder an Land, wo er in Polizeigewahrsam genommen und zu drei Monaten Zwangsarbeit verurteilt wurde. Eine Protestwelle australischer Linker sorgte dafür, dass er die Strafe nicht antreten musste.

1946 kehrte Egon Erwin Kisch mit seiner Frau Gisl nach Prag zurück und unternahm Recherchereisen durch die befreite Tschechoslowakei. Sein Engagement für die kommunistische Idee blieb ungebrochen. Seine Gesundheit leider nicht. Als er 1947 den ersten und im Folgejahr den zweiten Schlaganfall erlitt, schien auch die Rasanz seines Lebens und Streitens ihren Tribut gefordert zu haben. Der zu frühe Tod verwehrte ihm die Sicht auf ersehnte sozialistische Entwicklungen in seiner Heimat und in der Welt. Aber auch auf tragische Wirrnisse und Rückschläge, die wohl an sein Gewissen gerührt hätten.

Reportage als Kampfform

Man müsse „die Vergangenheit und Zukunft in Beziehung zur Gegenwart stellen“ und „wissenschaftlich überprüfbare Wahrheit“ vermitteln, war Kischs Credo. Weil es ihm nicht nur um eine wahrheitsgetreue Interpretation der Verhältnisse, sondern um ihre Veränderung ging, sah er die Reportage seiner Denkungsart als Kampfform an. Der rasende Reporter Kisch war darin so meisterhaft, dass er linkem Journalismus bis heute ein Vorbild ist. Auch der bürgerliche greift zuweilen nach seinem Ruf. Nicht auszuschließen, dass selbst beflissene NATO-Schreibzündler eine launige Eloge auf den Rasenden ausbrächten. Aber sie missverstünden sein Rasen, und sie dürften sicher sein: Er würde sie verachten.

Gekürzt. Wir bedanken uns bei der Redaktion der „Mitteilungen der Kommunistischen Plattform“ für die Abdruckgenehmigung.

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"Rasender Reporter in rasender Zeit", UZ vom 24. März 2023



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