DKP bereitet 25. Parteitag vor – Auszüge aus dem Referat von Patrik Köbele auf der 1. PV-Tagung

Ran an die Klasse

Der Vorsitzende der DKP, Patrik Köbele, referierte auf der Parteivorstandstagung Ende Juni zum Thema Arbeiterklasse und Aufgaben der Kommunisten. Auf dem Parteitag im kommenden März sollen die Überlegungen im Mittelpunkt stehen, wie die DKP wieder verstärkt in der Arbeiterklasse wirken kann. Dazu sollen im Vorfeld Strukturveränderungen in der Arbeiterklasse analysiert werden. Der Vorsitzende orientierte die Partei auch darauf, sich wieder mehr mit der Frage der historischen Mission der Arbeiterklasse zu beschäftigen. Es gehe darum, planmäßig und organisiert „ran an die Klasse“ zu kommen. Ein erster Schritt auf diesem Weg seien die von der DKP unterstützten Kämpfe um Personalbemessung. UZ dokumentiert Auszüge aus dem Referat. Der vollständige Text ist unter unsere-zeit.de zu finden.

Am Wesen der Lohnarbeit ändert sich nichts, wenn Gehaltsbestandteile in Aktienoptionen ausbezahlt werden. Spätestens in der Dotcom-Krise im IT-Bereich am Anfang des Jahrhunderts merkten die dort Beschäftigten, dass sie zwar hoch bezahlt waren und bestimmte Privilegien genossen, dafür aber das sogenannte „unternehmerische Risiko“ zu tragen hatten – sie blieben von ihren Unternehmen abhängige Lohnarbeiter.

Am Wesen der Lohnarbeit ändert sich auch nichts dadurch, dass das Kapital in seiner langen Herrschaftsgeschichte gelernt hat, die Klasse zu bestechen und zu spalten. Insbesondere Teile der Arbeiterklasse, die für die Beherrschung und Weiterentwicklung der Produktivkräfte eine besondere Rolle spielen, bindet es durch Sonderstellung und Privilegien an sich.

Strukturveränderungen der Arbeiterklasse

Die Veränderungen der Struktur der Arbeiterklasse sind rasant. Wenn wir Zahlen von 1996 und 2019 vergleichen, dann zeigen sie, dass die Zahl der Erwerbstätigen wächst, im benannten Zeitraum von 38 Millionen auf 45 Millionen. Die Zahl der abhängig Erwerbstätigen stieg von 32 Millionen auf 38 Millionen. Gleichzeitig verschiebt sich weiter der Anteil zwischen produzierendem Gewerbe und Dienstleistungen massiv. Im benannten Zeitraum sank der Anteil der Beschäftigten im produzierenden Gewerbe von 31 Prozent auf 24 Prozent, während der Anteil der im Bereich von Dienstleistungen Beschäftigten von 66 Prozent auf 75 Prozent zunahm. Diese Entwicklung dürfte zum großen Teil auf Strukturveränderungen in Unternehmen wie Ausgliederungen zurückgehen.
Ein zentraler Entwicklungsprozess ist seit Langem die Deregulierung besonders der Rechte der Arbeiterklasse. Der Anteil der unbefristeten Vollzeitarbeitsverhältnisse sank von über Dreiviertel auf Zweidrittel der Beschäftigen. Die Zahl atypisch Beschäftigter stieg von 5 Millionen im Jahr 1996 auf 7,3 Millionen im Jahr 2019 – 16,2 Prozent aller Werktätigen sind somit atypisch beschäftigt, das ist in etwa jeder Sechste. Am stärksten stiegen Teilzeit, geringfügige Beschäftigung und Leiharbeit.

Dazu kommen offiziell im Mai 2022 2,2 Millionen Arbeitslose, von denen zwei Drittel nur Leistungen nach SGB II, also Hartz IV beziehen. Die Bundesanstalt für Arbeit spricht von einer durch Corona verfestigten Langzeitarbeitslosigkeit, die seit 2020 um über 200.000 Menschen auf 917.000 Menschen gestiegen ist. Nach wie vor gibt es einen signifikanten Unterschied der Arbeitslosigkeit zwischen dem Westen und dem Osten unseres Landes. Dieser Unterschied ermöglicht der herrschenden Klasse, Druck auf die Arbeitsbedingungen zu machen und die Klasse in West und Ost gegeneinander auszuspielen. Deshalb hat die Forderung nach Beseitigung dieses Unrechts eine große Bedeutung für die Formierung der Arbeiterklasse in ihrer Gesamtheit.

Der Kern der Arbeiterklasse

Auf der 8. PV-Tagung im Jahr 1987 maß die Partei dem Kern der Arbeiterklasse eine besondere Bedeutung zu. Sie definierte ihn einerseits als die Arbeiter und Angestellten der Großbetriebe der materiellen Produktion, der dem „Monopolkapital unmittelbar gegenüber (steht und) auch die größten Kampferfahrungen“ hat. Weiter hat er „in der Regel einen außerordentlich hohen gewerkschaftlichen Organisationsgrad und erlangt dadurch für die Kämpfe und Orientierungen der ganzen Arbeiterbewegung eine sogar weit über die Beschäftigtenzahlen hinausgehende Bedeutung“.

Nach wie vor stehen die Arbeiter und Angestellten in den Großbetrieben dem Monopolkapital oder dessen Staat direkt gegenüber. Diese Betriebe arbeiten in der Regel mit den modernsten Maschinen, also auf dem höchsten Stand der Produktivkräfte in ihrem Bereich. Dadurch ist dieser Kern allerdings großen Veränderungen unterworfen und es stehen neue große Veränderungen vor der Tür. In Deutschland ist der Bergbau nahezu völlig verschwunden, die Stahlindustrie hat an Größe verloren. Die Leitbranche der letzten Jahrzehnte war die Automobilindustrie. Sie steht vor einem tiefgreifenden Wandel. Im Maschinenbau hat sich die Anzahl der Beschäftigten seit 1996 um 10 Prozent auf eine Million erhöht. Der Maschinenbau ist damit in der Industrie die größte Branche. Innerhalb der IT-Branche sind große Softwareunternehmen wie SAP dazugekommen.

Auch das Monopolkapital kennt die Bedeutung des Kerns und versucht deshalb einen Teil der Beschäftigten, in der Regel die unbefristet Beschäftigten und ihre Interessenvertretungsorgane, eng an sich zu binden. Das geschieht mit Arbeitsbedingungen und Einkommen, die oft erheblich über dem Durchschnitt liegen. Für Betriebsräte und Gewerkschafter wird diese Einbindung über Formen des Co-Managements versucht.

Daneben agiert das Kapital mit Disziplinierung des Kerns der Arbeiterklasse. Werkverträge und Leiharbeit, Outsourcing und Schaffung verlängerter Werkbänke in „Niedriglohnländern“ demonstrieren die Unsicherheit der Verhältnisse. Für diese Kombination aus Zuckerbrot und Peitsche nutzt das Monopolkapital immer noch die Extraprofite aus den internationalen Ausbeutungsverhältnissen. Das führt auch zu Integrationsdruck in diesen Teilen der Arbeiterklasse, der sich in Aussagen spiegelt wie: „Aber es geht uns ja noch besser als den Griechen.“

Das hat in den letzten Jahren dazu geführt, dass dieser Kern der Arbeiterklasse seine führende Rolle in Kämpfen eingebüßt hat. Kämpferisch in Erscheinung getreten sind etwa die Kolleginnen im Gesundheitswesen oder im Bereich Soziales und Erziehung. Sie haben das Problem, dass ihr Druck nicht direkt auf die Profite des Monopolkapitals wirkt, sondern „Dienstleistungen“ trifft, die andere Teile der Klasse dringend benötigen. Dazu argumentieren die Herrschenden mit angeblich leeren Kassen und verschleiern damit erfolgreich, dass deren Leere das Ergebnis des monopolistischen Kapitalismus ist.

Diese Bereiche können allerdings eine herausragende Bedeutung entfalten, weil das Monopolkapital, seine Medien und seine Ideologen unfähiger werden, Widersprüche in diesen Bereichen zu verkleistern: Es glaubt kaum noch einer, dass Privatisierung im Gesundheitswesen gesund ist oder man das Wohnen den großen Konzernen überlassen darf. Bildung, Energie- und Verkehrswende, also die notwendigen Herzstücke einer notwendigen ökologischen Wende, sehen immer mehr Menschen beim Monopolkapital nicht gut aufgehoben. Ich glaube, dass neben der direkten Nähe zum Monopolkapital auch die Nähe von Branchen und der dort Beschäftigten zu Bruchpunkten in der Integrationsfähigkeit des Monopolkapitals Bedeutung im Klassenkampf gewinnen kann.

Die historische Mission

Zur historischen Mission der Arbeiterklasse formulierte die 8. Tagung des PV 1987, also vor 35 Jahren:

„Die neuen Aufgaben der Arbeiterklasse und der Arbeiterbewegung herauszuarbeiten, muss aus Sicht der Kommunisten immer basieren auf der Kenntnis und Anwendung der gesellschaftlichen Bewegungsgesetze und der daraus erwachsenden Mission der Arbeiterklasse. Ihre Mission besteht nach wie vor darin, Träger des Kampfes um eine ausbeutungsfreie, eine sozialistische Gesellschaft zu sein. (…) Die Arbeiterklasse zum Kampf um die eigene Befreiung und die aller anderen gesellschaftlichen Kräfte von Ausbeutung und Unterdrückung zu befähigen, ist eine sehr moderne, der Zukunft zugewandte Aufgabe. Dafür zu kämpfen, dass die Menschheit vor der Gefahr der atomaren Selbstvernichtung bewahrt wird, ist heute erste Aufgabe der Arbeiterpolitik einer kommunistischen Partei. Wir sehen es so, dass die Arbeiterklasse damit heute nicht mehr nur der soziale Hoffnungsträger ist, sondern ihre historische Mission erweitert ist, die Aufgabe enthält, zusammen mit anderen Friedenskräften die Weiterentwicklung menschlicher Zivilisation zu sichern. (…) Arbeiterpolitik ist sowohl Kampf um Frieden als auch Kampf um Arbeit, ist ebenso das Eintreten für mehr Demokratie wie für den Umweltschutz. (…) Arbeiterpolitik heute: Das ist der Kampf um eine dauerhafte Friedensordnung.“

Aus meiner Sicht hochaktuelle Aussagen, die sich durch die Konterrevolution in den europäischen sozialistischen Ländern eher zugespitzt denn relativiert haben. Ausgehend von diesen richtigen Aussagen kann man sie angesichts des seit 1989/90 veränderten Kräfteverhältnisses nur dahingehend erweitern, dass Kommunistinnen und Kommunisten überall auf der Welt die Aufgabe haben, unter ihren spezifischen – auch nationalen – Bedingungen einen antiimperialistischen Kampf zu führen, der das Kräfteverhältnis verbessert, um die Chance auf Menschheitsfortschritt zu erhalten.

Klassenbewusstsein schaffen

Solange die Arbeiterklasse allerdings nur eine „Klasse an sich“ ist, kann sie ihre Mission nicht erfüllen. Neben dem objektiven Faktor muss auch der subjektive Faktor dazukommen. Dazu muss die Arbeiterklasse ihre gemeinsamen Interessen erkennen, sie muss erkennen, dass ihre Interessen denen der Kapitalisten antagonistisch gegenüberstehen und der Klassenkampf für die Durchsetzung ihrer Interessen notwendig ist. Der folgende Schritt der Formierung der Klasse ist die Einsicht, dass sie sich organisieren muss, um gemeinsam und planmäßig den Klassenkampf zu führen, um letztlich den Kapitalismus hin zum Sozialismus revolutionär zu überwinden – erst dann erwächst der Arbeiterklasse die Kraft, ihre historische Mission zu erfüllen. Diese hohe Form des Klassenbewusstseins kann im Unterschied zur urwüchsigen Form nicht spontan entstehen, sie verlangt nach der Vermittlung von Zusammenhängen, von Erfahrungen. Es geht um den Grundwiderspruch zwischen gesellschaftlicher Produktion und privater Aneignung und die sich daraus entwickelnden Widersprüche zwischen Kapital und Arbeit, die sich in jede kleinste Ecke des Lebens auswirken. Letztlich geht es um die Entwicklung von revolutionärer Strategie und Taktik durch die Klasse. Das wiederum erfordert Theorie und Praxis und deren Einheit. Auch, wenn vieles davon sich immer noch im nationalen Rahmen abspielt, ist proletarischer Internationalismus dabei unverzichtbar. Zentrales und unverzichtbares Instrument zur Entwicklung der Arbeiterklasse von einer Klasse an sich zu einer Klasse für sich ist deshalb die Kommunistische Partei. Aber all das ist in der imperialistischen Phase, in einem der höchstentwickelten und reichsten imperialistischen Länder, keineswegs eine leichte Aufgabe.

Schon Karl Marx und Friedrich Engels beschrieben im „Kommunistischen Manifest“ die Konkurrenz unter den Arbeitenden als die zentrale Problematik, die der dauerhaften Herausbildung von Bewusstsein in der Arbeiterklasse entgegensteht. Im Zuge der Produktivkraftentwicklung unter kapitalistischen Gesellschaftsbedingungen hat sich diese Konkurrenz immer weiter entwickelt und verschärft. In der imperialistischen Phase gehören dazu auch die Herausbildung der Arbeiter-aristokratie und der Arbeiterbürokratie, also von Teilen der Arbeiterklasse, die mithilfe imperialistischer Extraprofite in die Strategie des Monopolkapitals integriert werden.

Fragmentierung der Klasse

Die vielfache Fragmentierung der Klasse, die vielfach wirkende Konkurrenz, das sind objektiv wirkende Faktoren, die der subjektiven Erkenntnis der gemeinsamen Klassenlage entgegenwirken.

Seit 1987, also seit der damaligen PV-Tagung, gab es mindestens drei einschneidende Entwicklungen für das Bewusstsein der Arbeiterklasse und anderer nichtmonopolistischer Teile der Bevölkerung.
Die erste ist die siegreiche Konterrevolution in den sozialistischen Ländern Europas. Sie raubte der Arbeiterklasse eine reale gesellschaftliche Alternative zum Kapitalismus. Das gilt selbst für die Teile, die sich negativ auf den Sozialismus bezogen. Auch Sozialdemokraten waren damals wesentlich stärker gezwungen, Vorstellungen gesellschaftlicher Alternativen zu formulieren, selbst wenn dies in Abgrenzung zur DDR und zur Sowjetunion passierte. Sie enthielten doch in der Regel mehr oder minder starke Absagen an die faktische Herrschaft des Monopolkapitals. Heute formulieren die übergroßen Teile der Arbeiter- und Gewerkschaftsbewegung sowie mit ihr verwobener oder aus ihr kommender Parteien – wie SPD oder Linkspartei – keine umfassenden gesellschaftlichen Alternativen mehr, sondern bleiben, wenn überhaupt, bei reformistischen Einzelforderungen stehen.

Die Auswirkungen der Konterrevolution haben die Arbeiterklasse und die Arbeiterbewegung in allen Ländern Europas getroffen. In Deutschland kommt eine Besonderheit dazu. Das Gebiet der annektierten DDR wurde nahezu deindustriealisiert. Dadurch schuf sich das Kapital einen Hinterhof im eigenen Land. Dies ergab zusätzliche Möglichkeiten, Teile der Arbeiterklasse gegeneinander auszuspielen. Der verlorene Streik 2003 in der Metallindustrie im Osten stellt heute noch eine belastende Erfahrung dar.

Der zweite Einschnitt waren die Agenda-Gesetze, die Anfang der 2000er Jahre von einer SPD-/Grünen-Bundesregierung, mit Unterstützung der CDU, beschlossen wurden. Neben vielen Einzelmaßnahmen des Sozialabbaus in verschiedenen Bereichen wirkt die sogenannte Reform des Arbeitslosengelds und der Sozialhilfe als Disziplinierungsmittel vor allem auf die Beschäftigten: Wer heute arbeitslos wird, dem droht innerhalb kürzester Zeit der Abstieg in die Armut. Nach zwölf Monaten Arbeitslosigkeit geht es an Erspartes, das Häuschen oder das Auto. Es droht Umzug aus „zu großen“ Wohnungen. Alle Jobangebote müssen angenommenen werden, auch mit massiven finanziellen Verlusten. Alles ist zumutbar.

Den dritten Einschnitt stellt die Produktivkraftentwicklung selbst dar, die unter kapitalistischen Eigentumsverhältnissen dem Kapital, insbesondere dem Monopolkapital, gewaltige neue Möglichkeiten zur Fragmentierung der Arbeiterklasse, zur Deregulierung von Arbeitsverhältnissen gibt. Auf die Produktivkraftentwicklung werde ich noch gesondert eingehen.

Heute kommt ein vierter Einschnitt dazu. Die berechtigte Angst vor Krieg, gar Atomkrieg, die NATO-Besoffenheit und die deutschen Großmachtambitionen laufen parallel zu einer massiven Inflation. Große Teile der Arbeiterklasse empfinden sehr reale Perspektivangst. Die Inflation erhöht Armut und Armutsgefahr massiv. Wer alles tun muss, um seine Familie satt zu bekommen, der ist meist eben nicht einfacher, sondern schwerer für den Kampf mobilisierbar.

Bewusstseinshemmer

Zusätzlich wirken sich subjektive Faktoren hinderlich bei der Herausbildung von Klassenbewusstsein aus. Ich nenne einige Faktoren:

Migrations- und Fluchtbewegungen führen dazu, dass unterschiedliche kulturelle Hintergründe und unterschiedliche Traditionen in der Erfahrung des Klassenwiderspruchs, der Klassenkämpfe und der Organisationen der Arbeiterbewegung zusammenkommen.
Ähnliches gilt für die Proletarisierung der Intelligenz, die zwar der Arbeiterklasse fachlich hoch qualifizierte Kräfte zuführt, die aber oft wenig Klassenkampferfahrung haben oder sogar eine gewisse Arroganz gegenüber der Arbeiterbewegung mitbringen.

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Auch heute stehen die Räder still, wenn die Kollegen es wollen. Zu viele denken, sie müssten nicht streiken, sondern mit den Konzernherren ließe sich verhandeln. (Foto: Wolfgang Zeyen / IG Metall)

Und vor allem sollten wir nicht vernachlässigen, dass wir in der Arbeiterklasse der BRD eine langjährige Tradition der scheinbar erfolgreichen Sozialpartnerschaft haben. Der scheinbare Erfolg war zwar größtenteils der Existenz des Sozialismus und der DDR geschuldet, allerdings wurde das schon damals gerne verkannt. Diese Tradition der Sozialpartnerschaft führt vor allem zu einer weit verbreiteten und tief verankerten Stellvertretermentalität, die dem Irrglauben aufsitzt, dass eigener Kampfeinsatz vermieden werden kann, wenn die Interessenvertretung nur gut an „die Gewerkschaften“, die „Funktionsträger“ oder die „Abgeordneten“ delegiert wird. Diese sozialpartnerschaftliche Illusion wird dadurch genährt, dass die materielle Situation im Durchschnitt ja immer noch besser ist als die anderer nationaler Abteilungen der Arbeiterklasse, zum Beispiel in Ländern der EU-Peripherie.

Wenn wir dies alles betrachten, dann ist es eigentlich ganz erstaunlich, welche Aktivitäten und Kämpfe Teile der Arbeiterklasse immer wieder führen. All diese Entwicklungen, alle mediale Dauerberieselung, der gesamte Ideologieapparat hat den „Lümmel“ Arbeiterklasse immer noch nicht im Griff. Dieser Lümmel ist und bleibt für die herrschende Klasse ein unsicherer Kantonist. Das steckt dahinter, wenn Robert Habeck bei „Maybrit Illner“ sagt: „Ob (…) die politischen Maßnahmen ausreichen, um gesellschaftlichen Frieden und das Gefühl, dass es fair in diesem Land zugeht, durchzuhalten, das wird die entscheidende Frage des Herbstes und des Winters werden.“

Lage der Arbeiterklasse

Neben Entwicklungsbereichen wie Nanotechnologien oder supraleitende Materialien ist die Haupttendenz der Produktivkraftentwicklung das, was im Allgemeinen als „Digitalisierung“ bezeichnet wird. Dieser Begriff ist unscharf, weil er so benutzt wird, als ob es sich dabei um etwas völlig Neues handeln würde. Das ist aus meiner Sicht nicht richtig, weil die Digitalisierung mit dem Einzug der Computer in die Bereiche der Produktion und Verwaltung begann – und dieser Zeitpunkt ist sicherlich im letzten Quartal des vorigen Jahrhunderts anzusiedeln.

Der Prozess der Ausbreitung war damals aber im Verhältnis zur heutigen Geschwindigkeit fast ein langsamer Prozess. Aus meiner Sicht sind es vor allem drei Prozesse, die die heutige digitale Welt so prägen, dass man nach der Einführung der Computertechnologie an sich von einer weiteren technologischen Revolution sprechen kann.
Das erste ist die Entwicklung des Internets, die die anfänglich meist hierarchisch auf Großrechner orientierte Welt durch ein Netz mit unendlich vielen Vermaschungen und Verbindungen ablöste, das nahezu weltumspannend ist und theoretisch eine Kommunikation jedes Endgeräts mit jedem anderen weltweit zulässt.

Der zweite Prozess ist der Quantensprung in den Übertragungsgeschwindigkeiten im Netz und damit der Möglichkeiten, riesige Datenmengen in kürzester Zeit zu transferieren. Ich verdeutliche die Entwicklung an einem Beispiel. Anfang der 1990er-Jahre arbeitete ich in einem Unternehmen mit rund 150 Beschäftigten in Solingen, die sowohl auf Rechnern der mittleren Datentechnik in der Nähe von London als auch auf einem Großrechner in den USA produktiv arbeiteten. Die Datenverbindung nach Britannien war eine Leitung mit einer Übertragungsgeschwindigkeit von 64 Kilobit pro Sekunde, die sich alle Mitarbeitenden in Deutschland teilen mussten. Von Britannien ging dann der Datenverkehr von einigen hundert europäischen Beschäftigten über – wenn ich mich richtig erinnere – zwei Leitungen mit einem Datendurchsatz von 128 Kilobit pro Sekunde in die USA.

Teste ich heute, aus dem Netz in der Hoffnungstraße 18, die keine herausragende Anbindung hat, den Datendurchsatz, der meinem Rechner zur Verfügung steht, erhalte ich eine Download-Geschwindigkeit von über 200 Megabyte pro Sekunde. Wenn ich mich nicht verrechnet habe, ist dies das 3.000-Fache des damaligen Datendurchsatzes – und es steht heute einem einzigen Rechner zur Verfügung.

Die dritte Entwicklung ist die von Leistungsressourcen eines Endgeräts. Mein Smartphone hat 8 Gigabyte Hauptspeicher und eine „Festplatte“ von 128 Gigabyte. In den 70er Jahren des vorigen Jahrhunderts konnte man Großrechner von IBM mit einem Hauptspeicher von 1 Megabyte erwerben, der Kaufpreis lag bei über vier Millionen US-Dollar (Modell 165).

Diese drei Faktoren – Internet, Übertragungsgeschwindigkeit und Rechnerleistung – lassen heute eine räumliche Entkoppelung komplexer Prozesse wie Entwicklung, Konstruktion, Steuerung, Qualitätssicherung vom eigentlichen Ort der Produktion bei gleichzeitiger Echtzeitübertragung zu. Das gilt auch für die Zusammenarbeit von Menschen – letzteres wurde durch die Pandemie massiv befördert. „Kulturelle“ Widerstände ließen sich damit viel schneller brechen.

Arbeiterklasse und Gewerkschaften

Deutschland ist ein Land, das über eine lange und große gewerkschaftliche Tradition verfügt. Die Bildung der Einheitsgewerkschaft als Konsequenz aus Krieg und Faschismus war und ist eine herausragende Leistung der Arbeiterbewegung. Allerdings haben sich der DGB und seine Mitgliedsgewerkschaften in der alten BRD stark in Richtung einer sozialdemokratischen Richtungsgewerkschaft entwickelt. Dies wurde auch durch die Auflösung des FDGB im Zuge der Annexion der DDR, also im Zuge dieser tiefen Niederlage der Arbeiterbewegung, nicht besser. Die Arbeiterklasse der DDR stand inmitten einer antikommunistischen Hysterie, inmitten der Zerstörung ihrer Industrie, vor der massenhaften Perspektive der Arbeitslosigkeit ohne Gewerkschaft da. Sie sollte sich in den DGB-Gewerkschaften neu organisieren. Das war kein Klima, um einen klassenkämpferischen Impuls zu geben.

Zwar konnte aus der Partei Bündnis90/Die Grünen und später der Linkspartei ein gewisser Einfluss gewonnen werden, am Wesen der Hegemonie der alten Sozialdemokratie hat das aber nichts geändert. Eine klassenkämpferische Orientierung ist mit unserer drastischen organisationspolitischen Schwächung und nicht mehr vorhandenen Verankerung in den Betrieben massiv zurückgegangen.

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Ende der 1980er Jahre war der Zusammenhang von Rüstung und Sozialabbau präsenter in den gewerkschaftlichen Kämpfen. (Foto: Klaus Rose)

Die Hegemonie der alten Sozialdemokratie ist politisch kompliziert, führt sie doch – vor allem in Phasen, in denen die SPD mitregiert – zu einer direkten Einbindung in die politischen Strategien der herrschenden Klasse. Wir erleben das aktuell massiv in der Kombination aus NATO-Einbindung und imperialistischem Großmachtanspruch. Wir erleben das permanent im tief verankerten Glauben an eine angebliche Sozialpartnerschaft.

Gewerkschaften und Kommunisten

Trotzdem bleibt es für uns dabei – Gewerkschaften sind die Schulen des Klassenkampfs und die Einheitsgewerkschaft – also der DGB und seine Mitgliedsgewerkschaften – sind eine historische Errungenschaft, die wir Kommunistinnen und Kommunisten mit aller Kraft verteidigen. Es geht uns immer darum, dass die Gewerkschaftsbewegung das Gesamtinteresse der Arbeiterklasse vertritt – deswegen lehnen wir berufsständische Modelle oder Ähnliches ab, deswegen organisieren sich Kommunistinnen und Kommunisten in den Mitgliedsgewerkschaften des DGB und werden dort aktiv.

Trotz unserer positiven Bewertung der Einheitsgewerkschaft sehen wir in der derzeitigen Situation auch strukturelle Probleme. Da ist das Widerspruchsfeld zwischen dem DGB als Dachorganisation und seinen Mitgliedsgewerkschaften. Aus unserer Sicht haben die Mitgliedsgewerkschaften gegenüber dem DGB an Gewicht gewonnen. Das bedeutet immer die Gefahr, dass Brancheninteressen über das Gesamtinteresse dominieren. Zusätzlich ist aus verschiedenen Gründen das Prinzip „Ein Unternehmen – eine Gewerkschaft“ aufgeweicht worden, teilweise kommt es gar zur Konkurrenz unter verschiedenen DGB-Gewerkschaften.

Ein zweites Problem ist die Konzentration auf den Teil der Klasse, der in Lohn und Brot steht. Damit bildet sich die gesellschaftliche Spaltung zwischen Arbeitenden und Ausgegrenzten in den Gewerkschaften ab, deren Hauptaufgabe ja die Zurückdrängung der Konkurrenz unter den Ausgebeuteten ist. Ein weiteres Problem haben die Herrschenden mit ihrem Betriebsverfassungsgesetz in die deutsche Arbeiterbewegung getragen. Gewerkschaften werden heute recht stark von den in ihnen organisierten Betriebsräten getragen, die gesetzlich zu einer „sozialpartnerschaftlichen Herangehensweise“ verpflichtet sind. Und wir sollten nicht vergessen, dass die vielfältigen Angriffe auf die wichtigste Waffe der Arbeiterklasse, das Streikrecht, Wirkung gezeigt haben. Im Vergleich zur Situation in Frankreich, Italien oder Spanien dürfte das Streikrecht der BRD sicher das am meisten mit Repressionen belegte sein. Das beginnt mit dem faktischen Verbot des politischen Streiks und setzt sich fort in der Androhung von Schadensersatzforderungen, falls ein Streik nicht verhältnismäßig ist. Was für ein Unsinn, was kann denn im Verhältnis zum Eigentum an den Produktionsmitteln unverhältnismäßig sein. Alles unterhalb der Enteignung ist es mit Sicherheit nicht.

Wir kämpfen um die Stärkung der Gewerkschaften, indem wir darum kämpfen, unsere Kolleginnen und Kollegen in den Gewerkschaften des DGB zu organisieren. Stärkung der Gewerkschaften hat aber auch eine vielfältige inhaltliche Seite. Wir kämpfen als Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter gegen die Integration der Gewerkschaften in die Strategien des deutschen Imperialismus. Das heißt: Wir kämpfen zäh und ausdauernd darum, dass der DGB und seine Mitgliedsgewerkschaften die Gefahr der von Olaf Scholz angekündigten „Zeitenwende“ erkennen.

Wir vermitteln zweitens in all unseren gewerkschaftlichen Aktivitäten die Erkenntnis vom Grundwiderspruch zwischen Kapital und Arbeit.
Drittens setzen wir uns für etwas ein, was in dem alten Lied „Zahl nicht nur den Beitrag“ zum Ausdruck kommt: Gewerkschaften sind keine Versicherungen, sondern Kampforganisationen. Die Aufgabe von klassenbewussten Gewerkschafterinnen und Gewerkschaftern ist, in allen Aktivitäten zu versuchen, ihre Kolleginnen und Kollegen zu mobilisieren, um gemeinsam in den Gewerkschaften aktiv zu werden.

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"Ran an die Klasse", UZ vom 8. Juli 2022



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