Das Tal von Taganana im Norden des Anaga-Gebirges (Teneriffa) ist von imposanter Schönheit. Der Horizont ist meerblau, darüber wolkenloser Himmel. Es ist sommerlich warm auf meiner Terrasse, das Land ausgedörrt nach Monaten ohne Nass. Octavio plärrt auf der oberen Terrasse in sein Mobil, um mit seinem Bruder Cesar einen Strauß auszufechten. Es herrscht Quarantäne! Präsident Sánchez hat den „Estado de alarma“ ausgerufen. Seit dem 14. März befindet sich neben den USA und Frankreich auch das Königreich Spanien im Krieg gegen ein morphologisch hübsches, winzig kleines Ding, das sogenannte Covid-19. Der Alarmzustand schränkt die Grundrechte des Bürgers entscheidend ein. Und das Gerede vom „Krieg“ tut ein Übriges. Bis zum 9. Mai besteht in Spanien die aktuelle Ausgangssperre. Das heißt, jedermann hat in seinen vier Wänden zu bleiben, mit Ausnahmen wie einmal wöchentlich Lebensmittel einzukaufen, den Arzt zu konsultieren, Medikamente in der Apotheke zu holen. Die Regierung appelliert an das Volk, beschwört den Gemeinsinn, die Regeln einzuhalten, und droht bei Verstößen mit drastischen Strafen. Mit todernster Miene tritt der Regierungschef vor die Kamera, mehrfach am Tag gibt es offizielle Bulletins im spanischen Fernsehen mit Regierungsvertretern, Medizinern, Polizeieinsatzleiter und Armeechef. Die einen beschwichtigen mit statistischen Zauberstücken, die anderen demonstrieren unnachgiebige Härte mit polizeilichen und militärischen Sanktionen. Pandemie auf allen Sendern, rund um die Uhr. Mehr Drohpotenzial scheint gar nicht nötig zu sein, um den Inselbewohner einzuschüchtern.
Die Straßen und Plätze sind menschenleer, die sechs Dorfkneipen sind geschlossen. Nur hie und da in den Abendstunden ein Gassigänger. Die wenigen Fahrzeuge, welche die Passstraße herunterkommen, sind die blauen, grün-weißen und orangefarbenen Jeeps und SUVs der diversen Polizeipatrouillen – der Policia Local, der Policia Nacional, der Unipol, der Guardia Civil, der Agentes Rurales. Bei Marie, der Besitzerin des kleinen Dorfladens, stehen die Freunde eines guten Tropfens Schlange. Alles ist hier exklusiv, auch die Preise! Die billigen Supermärkte in der nahen Stadt sind für die Dorfbewohner plötzlich unerreichbar geworden. Das alles schafft Aggression und Animosität. Während „Der Barbier von Sevilla“, Lieblingsoper der Friseurinnung, im Äther trällert, klopft es an die Balkontür. Ein Glatzkopf in blauer Uniform schnarrt mich an: „Du weißt, warum wir da sind!“ No. „Du bist ein Bajazzo, stupido!“ assistiert sein Kettenhund, wiederholt die Beleidigung und kann gar nicht mehr einhalten mit seinen Drohgesten. „Du kannst nur außer Haus gehen, um Lebensmittel zu kaufen, Wasser zu holen, zur Apotheke, zum Arzt“, und Abmarsch.
Corona bekommt Konkurrenz von einem Virus, das zwar nicht tötet, aber die gesamte Gesellschaft in ihren fragilen demokratischen Fundamenten treffen könnte. Ein Virus, das das soziale Leben tiefgründig erschüttert, die Menschen ängstlicher, trauriger, vorsichtiger macht. Zerstört wird, was sie am liebsten haben. Das Virus kommt aus diktatorischen Zeiten, hatte sich eingemottet in franquistischen und konservativen Kreisen und streut nun, im Schatten der Pandemie, mit Vehemenz. Als Resultat produziert es kollektive Hysterie, Kadavergehorsam und Verunglimpfung. Menschen denunzieren Menschen, stellen Mitmenschen bloß, die sich ihrer Meinung nach nicht an Vorschriften halten, um auf diese Weise Konformität zu erzwingen. Der Beschämte soll sich schämen und sein Verhalten ändern. Denunzieren ist zum Volkssport geworden. Und man will sich empören! Protagonisten dieser Denunziationskampagne sind die bis dahin unauffälligen Neidbürger, die kleinbürgerlichen Subalternen, denen bislang der große Auftritt verwehrt war. Nun kommen sie, legitimiert durch die im Fernsehen täglich wiederkehrende „Freigabe zum Abschuss“ ganz groß raus und scheuen sich nicht, die Nicht-Konformen ins Gefängnis zu bringen. Der selbsternannte Ordnungshüter hatte mich abgepasst, als ich aus dem fremden Haus trat, wo ich eine Möglichkeit fand, meinen vom Arzt dringend empfohlenen früheren Rückflug nach Alemania zu recherchieren. „Ich werde dich anzeigen“, drohte er mir mit unverhohlener Genugtuung. Die Ausgangssperren wecken Erinnerungen an die düstersten Zeiten der spanischen Geschichte. Unter Franco terrorisierte die Guardia Civil das Land. Noch heute ist sie die bestausgerüstete Polizeiformation des Königreichs. Jederzeit bereit, für „Todo por la patria“ zur Waffe zu greifen. Schießscharten und hohe Mauern prägen immer noch ihre Kasernen und Cuarteles, die jedes größere Dorf beherrschen. Die „Fasces“ in ihrem Emblem weisen sie immer noch als Faschisten aus. Den berüchtigten schwarzlackierten Dreispitz haben sie mittlerweile abgelegt. Traditionell sind die Kanarischen Inseln Franco-Land. Von hier aus eroberte der Putschist die Spanische Republik. In allen größeren Städten zeugen noch martialische Heldendenkmäler vom Sieg der Faschisten. Über Nacht wurde durch die sogenannte „Transición“, den Übergang von der Diktatur zu einer glaubwürdigen Demokratie, aus den Politikern, die jahrelang das Regime vertreten hatten, ganz plötzlich „Demokraten“. Und der Justizapparat, die Armee, die Polizei und die Guardia Civil änderten Namen und Farben.
Unter Franco war es gefährlich, abweichende Meinungen zu äußern. Die anderen konnten dich bei der Polizei anschwärzen, du liefst Gefahr, eingesperrt, gefoltert oder gar getötet werden. Die Empfehlung der Eltern, sich nicht in Politik einzumischen, zu schweigen, wegzuschauen, prägte die Nachkriegsgeneration. Ausgangssperren und Denunziation waren im spanischen Faschismus (40 Jahre Franco-Herrschaft) an der Tagesordnung. Jaume Cabré („Die Stimmen des Flusses“, Suhrkamp 2008) zeichnete diese franquistische Gesellschaft zwischen Hass und Angst in drastischen Bildern. Das Kollektiv ist nicht nur dort vor allem eines der Anpassung. Im Sog der allgemeinen Sensationslust kollaborieren viele Einwohner mit der Staatsmacht, applaudieren von den Fenstern aus den Blauen und Grünen, wenn die ins Dorf kommen, tauschen Informationen aus, lobhudeln sich die Angst vom Leib.
Vor der Polizei zu kuschen, sich bei ihr einzuschleimen, scheint vielen Bürgern in Notzeiten als opportun. Mit der partiellen Aneignung der Autorität vertreibt man die Angst vor ihr. Einige Tage waren vergangen, ich hatte mit vielen Schwierigkeiten einen früheren Flug buchen können, ich war zu meinem täglichen Gang zum Dorfbrunnen unterwegs, der das beste Wasser aus den Bergstollen spendet (das Leitungswasser hat einen ungenießbaren Chlorgeschmack). Das Recht, Wasser zu holen, hatte ich ja wohl durch die Versicherung der Polizisten. Im Rucksack drei leere Plastikflaschen, lief ich stracks der Policia Local in die Hände, die vor meinem Haus mit einigen Einwohnern, alle ohne Mundschutz, diskutierte. „Wohin gehst du!“ Zum Brunnen, Wasser holen. „Öffne den Rucksack!“ Ich zeigte ihnen die drei leeren Liter-Flaschen. „Es ist verboten, dort Wasser zu holen! Wenn du nochmal dorthin gehst …“ und der Glatzkopf machte eine unmissverständliche Geste in Richtung seines Gürtels, an dem Handschellen baumelten. Die sadistische Freude, dem alemannischen Störenfried, der sich erlaubt, was uns nicht erlaubt ist, endgültig den Schneid abgekauft zu haben, bestimmte den vielstimmigen Klamauk. Der Spießbürger wird zu einem Meister kleinbürgerlicher Unterwerfung und zum unterdrückten Unterdrücker. Meinen ärztlichen Passierschein wollte der Polizeiagent gar nicht mehr sehen.
Das glückliche Ende dieses Abenteuers in wenigen Sätzen: In einer Nacht-und-Nebel-Aktion ging es im Caracho über die Berge, bevor eine Polizeikontrolle heraufkam. In letzter Minute erreichte ich in Santa Cruz den Flughafenbus. In Köln paradiesische Zustände. Vorerst werde ich mir noch zwei Wochen Quarantäne gönnen. Letzte Meldung im Newsblog: Nach 48 Tagen: „Hausarrest“ in Spanien für Freizeit gelockert!