Antikommunistische Märchen aus dem Kreml

Putin kontra Lenin

Von Willi Gerns

Am Donnerstag, dem 21. Januar, fand im Moskauer Kreml eine Sitzung des Rates für Forschung und Bildung der Russischen Föderation statt. Dabei ist es zu einem Wortwechsel zwischen Michail Kowaltschuk, dem Direktor des Kurtschatow-Instituts für Atomforschung, und Präsident Wladimir Putin gekommen. Am 23. Januar berichteten darüber sowohl die „Junge Welt“ als auch die russische „Sowjetskaja Rossija“.

In der „Jungen Welt“ heißt es in der Rubrik „Abgeschrieben“: „Dabei zitierte der Direktor des Kurtschatow-Instituts für Atomforschung, Michail Kowaltschuk, ein Gedicht aus den 1920er Jahren von Boris Pasternak mit dem Titel ‘Die hohe Krankheit‘ über die Oktoberrevolution und einen Satz daraus über Wladimir Iljitsch Lenin: ‚Er lenkte den Gang der Gedanken und nur deshalb – das Land‘. So müsse auch Wissenschaft organisiert werden. Der russische Präsident Wladimir Putin ging darauf in seiner Schlussbemerkung ein: (…),Michail Walentinowitsch, den Gang der Geschichte lenken – das ist richtig. Wichtig ist allerdings, dass dieses Denken zum erforderlichen Resultat führt, aber nicht wie bei Wladimir Iljitsch. Auch, wenn die Idee an sich richtig ist. Im Endergebnis führte dieses Denken zum Zerfall der Sowjetunion, genau daran lag es. Es gab viele Überlegungen solcher Art: Autonomisierung und so weiter – die legten eine Atombombe unter das Gebäude, das Russland heißt, und die zerriss es dann auch. Und die Weltrevolution brauchten wir nicht. Da haben Sie eine Idee – es ist aber noch nötig, darüber nachzudenken, was für eine Idee das ist.‘ Juri Jemeljanow stellt dazu in der „Sowjetskaja Rossija“ fest: „Die Erklärung Putins zeugt nicht nur von seinem Verhältnis zu Lenin, sondern auch zu den historischen Ereignissen, in denen er sich, sagen wir es so, nicht zurechtfindet.“

Erstens. Lenin war bei weitem nicht der erste, der von der sozialistischen Weltrevolution sprach. Darüber schrieben Karl Marx, Friedrich Engels, die Aktivisten der I. Internationale, die noch vor der Geburt W. Uljanows entstand. Zweitens. Lenin strebte nicht danach, die Weltrevolution ohne Berücksichtigung der objektiven Realitäten zu verbreiten. Auf dem VII. Parteitag der KPR(B) (März 1918) sagte Lenin: „Ja, wir werden die internationale Weltrevolution erleben, aber vorläufig ist sie ein sehr gutes, ein sehr schönes Märchen – ich verstehe durchaus, dass Kinder schöne Märchen lieben. Ich frage jedoch: steht es einem ernsthaften Revolutionär an, an Märchen zu glauben?“

Obwohl das Wort ‚Autonomisierung‘ die gleichen Buchstaben enthält, wie auch das Wort ‚Atom‘, bedeutete dieser Begriff, der 1922 in der Diskussion über die Zukunft des Sowjetlands eine Rolle spielte, keineswegs, eine Atombombe unter das Gebäude des neuen Russlands zu legen. Die Idee der Autonomisierung vertrat eine gewisse Zeit der Volkskommissar für Nationalitätenfragen J. W. Stalin, der dabei gerade die Stärkung und Festigung und nicht die Absonderung der Sowjetrepubliken im Auge hatte. W. I. Lenin wandte sich gegen diesen Vorschlag, weil er berücksichtigte, dass zu dieser Zeit in den Sowjetrepubliken bereits Institute staatlicher Selbstständigkeit entstanden waren, und eine Absage daran nur die Unzufriedenheit eines Teils der Bevölkerung hervorrufen konnte.

Die Aussage Jemeljanows über die Autonomisierungsvorstellungen Stalins geht unserer Meinung nach an deren Kern vorbei. Das ist besonders bedauerlich für Leserinnen und Leser, für die diese Problematik Neuland ist. Es ging bei Stalins Autonomisierungsvorstellungen nämlich nicht um die „Stärkung und Festigung“ der nationalen Sowjetrepubliken, sondern um ihre Eingliederung in die Russische Föderative Sowjetrepublik mit dem Status von Autonomien, d. h. um die Absenkung ihrer Selbstständigkeit zugunsten der Russischen Sozialistischen Föderativen Sowjetrepublik (RSFSR). Gerade darum fürchtete Lenin negative Reaktionen bei Teilen der Bevölkerung der übrigen Sowjetrepubliken, die dort die Sowjetmacht gefährden könnten.

Recht hat Jemeljanow jedoch, wenn er die Unterstellung Putins, die „Autonomisierung“ habe zu den Hauptideen Lenins gehört, als geradezu lächerlich bezeichnet. Er fährt fort: „Bis heute hat uns der Reformator Putin nicht überzeugend darlegen können, warum unser Land solange es den Ideen Lenins folgte und den Sozialismus aufbaute, sich schnell entwickelte, erstarkte und zu einem der bedeutendsten Mächte der Welt wurde. Lenin zu beschuldigen, den Zerfall des Landes vorbereitet und eine ‚Atombombe‘ unter die UdSSR gelegt zu haben, das kann nur derjenige, der den gesunden Menschenverstand mit Füßen tritt. Die Initiatoren des Zusammenbruchs der UdSSR sind dem ganzen Volk bekannt, auch namentlich.“

Schließlich weist Jemeljanow noch auf den Widerspruch hin, dass Präsident Putin, Lenin der angeblichen Zerstörung der Sowjetunion beschuldigend, kürzlich mit der Eröffnung des Jelzin-Museums in Jekaterinburg gerade demjenigen höchste Ehren erwies, der die Hauptverantwortung für die Auflösung des Unionsvertrages über die Bildung der UdSSR und damit für deren Ende trägt.

Wir wollen hinzufügen: Die eingangs zitierte Feststellung Jemeljanows, Putin „finde sich in den geschichtlichen Ereignissen nicht zurecht“, scheint nach alledem zu diplomatisch formuliert zu sein. Zutreffender müsste wohl von einer antikommunistisch motivierten bewussten Entstellung der historischen Fakten die Rede sein. Aber reicht das aus, um die massive Polemik Putins gegen eine „Autonomisierung“, d. h. gegen Autonomien bzw. mit Blick auf Lenin und die Sowjetunion gegen nationale Republiken mit weitgehender Selbstständigkeit im Verbund einer Föderation zu verstehen? Oder geht es Putin vielleicht zugleich darum, mit Blick auf die heutigen Strukturen der Russischen Föderation vor zu viel Föderation und Autonomie zu warnen und die Trommel für den allmächtigen Zentralstaat zu rühren?

Abschließend soll darauf hingewiesen werden, dass – aus welchen Gründen auch immer – offenbar nicht wenige Nutzer der russischen Massenmedien, in denen über die Replik Putins auf den Direktor des Kurtschatow-Instituts berichtet wurde, über diese bzw. deren Inhalt empört sind. Jedenfalls sah sich Dmitri Peskow, der Pressesprecher des Präsidenten, zu dem Versuch gezwungen, seinen Chef zu verteidigen. Er erklärte, dass die Aussagen Putins „kaum ein Vorwand für Empörung sein“ (sollten). Eher könnten diese ein Vorwand dafür sein, nicht damit einverstanden zu sein, aber es gibt keinen Anlass zur Empörung. Letzten Endes ist jeder, darunter auch der Präsident, frei in seinem Verhältnis zur Rolle dieser oder jener Persönlichkeit in der Geschichte.

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"Putin kontra Lenin", UZ vom 29. Januar 2016



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