Die schlechte Nachricht zuerst: Die Arbeits- und Lebensbedingungen in Deutschland führen weiterhin zu einer Zunahme von Menschen mit psychischen, psychosomatischen und psychiatrischen Erkrankungen. Laut Gesundheitsberichterstattung des Bundes sind die stationären Fälle in der Gruppe „psychische und Verhaltensauffälligkeiten“ vom Jahr 1994 (726 962) stetig gestiegen um insgesamt 58,86 Prozent bis zum aktuell vorliegenden Höchststand von 1 154 848 Fällen im Jahr 2014.
Diese Zahlen und viele detailliertere Studien machen deutlich, wohin es führt, wenn die Lebensrealität von immer mehr Menschen geprägt ist von tiefen Unsicherheiten, zentralen Ängsten, zunehmendem Druck auf der Arbeit oder dem kompletten Vorenthalten von angemessener Arbeit und gesellschaftlicher Teilhabe. Umso wichtiger wäre, für die Patientinnen und Patienten eine Versorgungsstruktur vorzuhalten, welche der besonderen Komplexität psychischer und psychiatrischer Erkrankungen mit genügend und gut ausgebildetem Fachpersonal gerecht wird und wo auf dem neuesten Stand der pflegerischen, psychologischen und medizinischen Erkenntnisse gearbeitet wird.
Auch dieser Anforderung wird das Gesundheitssystem nicht gerecht. Die ohnehin schon veraltete Psychiatrie-Personalverordnung (Psych-PV) arbeitet mit zugrundeliegenden Minutenwerten aus dem Jahre 1988 und bildet deshalb Behandlung und Versorgung auf dem aktuellen Stand der Erkenntnisse gar nicht ab, zudem fehlen relevante Berufsgruppen bzw. sind – insbesondere was den psychologischen Bereich angeht – nicht ausreichend abgebildet.
Völlig unhaltbar wird die Arbeitssituation in den psychiatrischen Einrichtungen dann aber dadurch, dass selbst diese alten Personalstandards nicht eingehalten werden. Insbesondere private, aber auch andere Klinikkonzerne oder -verbünde geben für die betriebswirtschaftliche Steuerung Zielmargen wie „Psych-PV minus 15 Prozent“ (also im Schnitt 15 Prozent weniger Personal) oder ähnliches an Geschäftsführung und Klinikleitung heraus. Und das in einem Arbeitsbereich, in dem nahezu ausschließlich die direkte Arbeit zwischen Beschäftigten/Teams und Patientinnen und Patienten als Beziehungsarbeit wirkt und dafür ausreichende Zeit zur Verfügung stehen muss.
Da verwundert es nicht, dass die ständige Überforderungssituation der Beschäftigten diese auch an die Spitze der diversen Krankheitsstatistiken führt. Im DAK Gesundheitsreport 2015 werden für die Beschäftigten im Gesundheitswesen wiederum die höchsten Krankheitsstände (4,5 Prozent gegenüber 3,9 Prozent bei allen DAK-Versicherten) ausgewiesen, die Beschäftigten in den psychiatrischen Einrichtungen bewegen sich auf nahezu dem gleichen unrühmlichen Zahlenniveau.
Das einschneidendste Ereignis in der jüngeren Geschichte der psychiatrischen Versorgung war sicherlich der 1975 veröffentlichte Bericht der Psychiatrie-Enquêtekommission zur Lage der Psychiatrie in der BRD. Zumeist werden – berechtigterweise – zwei Begriffe aus dem Zwischenbericht von 1973 zitiert, der von „elenden“ und „zum Teil als menschenunwürdig zu bezeichnenden Umständen“ in den Krankenhäusern spricht. Die Versorgungslandschaft war damals geprägt von überwiegend abgeschotteten psychiatrischen Kliniken mit großen Krankensälen, in den die PatientInnen verwahrt und gesichert wurden. Wenn es therapeutische Angebote gab, waren diese nur rudimentär. Dafür wurde in hohen Maße mit ruhigstellenden Medikamenten gearbeitet. Niedergelassene TherapeutInnen oder psychotherapeutische Rehabilitation und insbesondere betreute Wohn- und Arbeitsformen waren fachlich bekannt, in Deutschland aber nahezu nicht vorhanden.
Nach diesem Abschlussbericht hat sich die Welt der psychiatrischen Versorgung in Deutschland nicht schnell, aber stetig verändert. Die menschenunwürdigen Krankengroßsäle mit über 50 PatientInnen gehören schon länger der Vergangenheit an und auch die geforderten Abteilungspsychiatrien in somatischen Krankenhäusern haben sich neben Fachkliniken mehr und mehr durchgesetzt, sodass die Stigmatisierung und strukturelle Ausgrenzung psychisch Kranker reduziert werden konnte.
Mittlerweile ist aber klar, dass es einen weiteren großen Settingwechsel in der psychiatrischen Versorgung braucht, da wissenschaftlich gesichert ist, dass Rehabilitation von psychisch und psychiatrisch erkrankten nicht überwiegend im Krankenhaus stattfinden kann, sondern im eigenen Lebens- und Arbeitsumfeld bestmöglich funktioniert. Das können zum Beispiel betreute Wohnungsangebote im Stadtviertel und begleitete Wiedereingliederungsmaßnahmen ins Arbeitsverhältnis sein.
Diese ambulanten Strukturen gilt es aber erst aufzubauen, denn noch ist die Psychiatrie in Deutschland hoch klinikorientiert und hält PatientInnen die notwendige Inklusion und Integration in ihre gewohnte Lebenswelt vor.
(Teil II erscheint in der nächsten Ausgabe der UZ)