Vielleicht sollten die politischen Auguren von Athen eine Anleihe in der Antike wagen und das Orakel von Delphi nach dem Namen und der Partei des nächsten Ministerpräsidenten von Hellas fragen. Bis zu den Parlamentswahlen in Griechenland und den Wahlen zum Europaparlament am 26. Mai sind es nur noch Monate. Aber nicht einmal dieses Datum ist – jedenfalls bezogen auf das Nationalparlament am Syntagma-Platz – sicher vorhersehbar.
Die Hohe Priesterin aus Berlin interpretierte die Vorhersagen auf ihre Weise: Bei ihrem letzten Besuch in Athen stattete Angela Merkel sowohl dem jetzigen Regierungschef Alexis Tsipras (Syriza) wie auch seinem Herausforderer Kyriakos Mitsotakis (Nea Dimokratia) einen Besuch ab. Laut ARD ein Zeichen der Harmonie für Tsipras und seinen „Sparkurs“. Andererseits: dezente Distanz zu Mitsotakis für dessen Ablehnung des Namens „Nord-Makedonien“. Auf den einigten sich die Sozialdemokraten Alexis Tsipras und Zoran Zaev (SDSM). Damit machte Tsipras für Nord-Makedonien das Tor auf zur NATO. Oder auch umgekehrt: Die NATO schloss damit auf dem Balkan weitgehend die Balkan-Flanke gegenüber Russland. In Griechenland kollidieren mithin militärstrategische Zielsetzungen – Beitritt zur NATO – mit innenpolitisch geprägten Worttiraden gegenüber dem Nachbarn im Norden mit der bis in diese Tage gleichnamigen griechischen Provinz Makedonien. 100000 Teilnehmer soll die letzte Kundgebung auf dem Syntagma-Platz gehabt haben. Diese Zahl muss in Relation zur Einwohnerzahl des ganzen Landes (zirka 10,7 Mill.) gesehen werden.
Die permanente Demütigung des griechischen Volkes durch die Repressalien der EU hat zur Folge, dass die Menschen eine Sehnsucht haben, ihren nationalen Stolz zurückzugewinnen. Da jegliche Bemühungen im sozialen Bereich oder am Arbeitsplatz, in Gremien oder auch auf der Straße fehl schlugen, ist das griechische Volk in eine tiefe Depression gefallen. Da ist die Mazedonien-Frage für die Populisten zur rechten Zeit gekommen, den Griechen vorzugaukeln, ihnen ihre nationale Identität zu erhalten.
Die von Tsipras ermöglichte Einbeziehung Nord-Makedoniens in die NATO ist ein Sprengsatz in der griechischen Innenpolitik. Tausende gingen bereits auf die Straße. Wohl eher nicht aus taktischen Gründen, weil sie die Ausuferung der NATO verhindern wollten. Vielmehr weil sie das Territorium Griechenlands durch den Nachbarn historisch, politisch, religiös tangiert sahen. Alles vor dem Hintergrund, ob Alexander der Große ein Grieche oder ein Makedonier war. Gefechte, die den Kern imperialistischer Strategien vernachlässigen und dennoch Tsipras zu Fall bringen könnten, wenn er nicht die Unterstützung von einer Handvoll von Überläufern bekommen wird.
Das Volk jedenfalls macht nicht mehr mit. Es wehrt sich konsequent gegen die weitere Beschneidung sozialer und politischer Rechte. Sogar die Lehrerinnen und Lehrer gingen am 11. Januar zu einem Streik ganztägig auf die Straße. Sie fürchten, dass der neue Gesetzesentwurf zum Einstellungsverfahren dazu führen wird, dass Tausende von Lehrkräften ohne Planstelle bleiben werden.
Und der Sozialdemokrat Tsipras schlägt zurück. Die Kommunistische Partei Griechenlands (KKE) spricht von einer „brutalen Niederschlagung der Massendemonstration“. Vor dem Dienstsitz von Tsipras waren Polizeieinsatzwagen aufgefahren. Die Demonstranten wollten mit dem Ministerpräsidenten ins Gespräch kommen. Statt auf Verhandlungen setzte Tsipras auf Polizeigewalt. Es gab Verletzte.
Dazu das Pressebüro des ZK der KKE: „Die KKE verurteilt den brutalen Angriff der Sondereinsatzkräfte der Polizei gegen die Massendemonstration der Lehrer vor dem Parlament, die sogar Tränengas und Schockgranaten eingesetzt haben. Ergebnis dieses Angriffs war die Verletzung von Demonstranten, unter ihnen der KKE-Abgeordnete Giannis Delis sowie die PAME-Funktionärin Theodora Drimala, die auch Vorstandsmitglied der Lehrergewerkschaft ist. Beide mussten ins Krankenhaus eingeliefert werden. Dieser Angriff ist ein Beweis dafür, dass die SYRIZA-ANEL-Regierung vor nichts zurückschreckt, wenn es darum geht, ihre Politik durchzusetzen. Diese Politik heißt, tausende Lehrer ohne ordentliche Arbeitsverhältnisse oder gar ohne Planstellen hinzuhalten, während in den Schulen sich tausendfach Unterrichtsausfälle anhäufen“. Dimitris Koutsoumbas, Vorsitzender der KKE, verurteilte die Angriffe der Polizei und kritisierte die „Skrupellosigkeit der Regierung“.
Während Tsipras auf die gewerkschaftlich organisierten Lehrerinnen und Lehrer eindreschen lässt, bleibt die Frage, welche Hausaufgaben er bis zum Ende seiner Amtszeit noch erledigt. Die Tagesschau zitierte Merkel, sie sei der festen Überzeugung, dass es Griechenland in diesem Jahr schaffe, zu halbwegs erschwinglichen Konditionen Geld von den freien Finanzmärkten zu besorgen. Ein Maßstab dafür sei die Investitionsbereitschaft der deutschen Wirtschaft. Der Schatten, den diese kleine brennende Kerze wirft, ist aber lang, denn nicht nur die Rentner werden dafür seit neun Jahren abgezockt.
Der Sozialdemokrat Alexis Tsipras hat seine Hausaufgaben weitgehend erledigt: Die Stützpunkte der NATO und der USA sind gesichert, die Tür für den NATO-Auftritt in Nord-Makedonien hat er aufgestoßen. Das Volk hat er gemolken. Die Wirtschaft hat er protegiert. Die kleinen Steuerzahler wurden belastet, die großen entlastet. Und sogar der „Goldene Pass“ wurde käuflich. Der Sozialdemokrat könnte nun nach der wenigstens partiellen „Krisenbewältigung“ zurücktreten. Hartz-IV lässt grüßen. Es sind schon andere Kanzler und Ministerpräsidenten mit einer solchen Bilanz abgestraft worden.