Zehn betagte Menschen in einem Wiener Altersheim, in Rollstühlen ordentlich zum Chor aufgestellt, singen mit brüchigen Stimmen „So ein Tag, so wunderschön wie heute“. Die erste Szene, und man weiß, man ist in einem Film von Ulrich Seidl, seit je der „König Makaber“ des an Makabrem reichen österreichischen Films. Der Titel „Rimini“ weckt Träume von sonnigem Adriaurlaub, aber Seidl und sein Stamm-Kameramann Wolfgang Thaler riskierten eine mehrmonatige Drehpause, um die Stadt als tristen, verlassenen Ort in grauem Winternebel, Schnee und Eis zeigen zu können. Und erst Seidls Hauptfigur Richie Bravo! Der füllte einst Säle als schmucker Schlagerstar im Glitzeranzug, versoff und verspielte aber seine Karriere und muss nun wie ein fetter, aufgedunsener Spätpunk in maroden Strandhotels vor Bustouristen auftreten, die vom Wiener Rollstuhlchor nur ein paar Jahre trennen. Wo sich eine Gelegenheit ergibt, bessert er als Gigolo seine miese Gage durch bezahlten Sex mit weiblichen Stammgästen auf.
Niedergang und Dekadenz also überall, und immer mittendrin Richie Bravo, von Michael Thomas im wahrsten Sinn des Wortes genial verkörpert. Mehr noch, sein Spiel trägt Seidls Film in den fast zwei Stunden über einige Längen. Zum Begräbnis der Mutter verdrückt sein Richie ein paar Tränen und nutzt die Gelegenheit, in seinem Jugendzimmer die Trophäen seiner einstigen Karriere mit einem schmalzigen Liebeslied anzusingen. Im dicken Lammfellmantel stapft er wie ein Penner durchs winterliche Rimini, weil er seine gut ausgestattete Villa aus Geldnot an Stammkunden vermietet hat. Sein Leben spielt sich ab zwischen Spielhallen, Bars und schäbigen Hotelzimmern. Thomas gestattet diesem Richie nichts Gefälliges, nichts, das sein Verhalten rechtfertigen oder ihm gar Zuschauersympathien eintragen könnte. Er lotet alle Nuancen aus zwischen psychischem Wrack und skrupellosem Kleinkriminellem. Sein Richie verdient kein Verständnis, nur noch Mitleid.
Man glaubt Seidl aufs Wort, wenn er erklärt, er und seine Ko-Autorin Veronika Franz hätten Thomas die Rolle auf den Leib geschrieben. Leider taten sie es mit der bei Seidl üblichen Gnadenlosigkeit und Drastik, die auch vor Geschmacklosigkeiten nicht halt macht und so ihrer Figur – und dem Publikum – ein großes Maß an Leidensfähigkeit abverlangt. Respekt, dass sie dem 2017 verstorbenen, schon todkranken Hans Michael Rehberg als Richies dementem Vater seine letzten Leinwandauftritte verschafften, deren ersten – im Rollstuhlchor – man fast übersieht. Aber muss er später im Heim lauthals Nazilieder grölen, eine Peinlichkeit, die der fehlerzogene Sohn dann mit seinem lauten „Amore mio“ hilflos aus der Welt zu schaffen versucht?
Überhaupt fällt auf, dass Seidl sich mehr für die exotische Gegenwart seines Helden interessiert als für die Vergangenheit, die sein Verhalten erklären könnte. Der Kurzbesuch daheim, das Schnäpschen mit seinem Bruder Ewald, das Begräbnis der Mutter, all das wird nur kurz gestreift als vage Hinweise auf Richies Werdegang. Es ist, als sei den Autoren, die ein Vierteljahrhundert gemeinsamer Arbeit verbindet, diese Ausblendung erst spät aufgefallen, und man könnte sich wünschen, sie hätten sie ganz übersehen. Denn die späte Einführung einer neuen Figur wirkt wie eine Notlösung: Unter die gereiften Damen, die schmachtend jeden Auftritt Richie Bravos genießen, mischt sich plötzlich eine junge, resolute Frau, die von ihm mehr will als Süßholzraspeln oder einen verstohlenen Quickie: seine Tochter Tessa (Tessa Göttlicher), die er vor Jahren mit ihrer Mutter einfach und ohne Alimente hat sitzen lassen. Nun fordert sie vom mittellosen Vater alles, was ihr zusteht – und alles sofort.
Damit bekommt die Schnulzenposse für Momente einen Hauch von Krimi, der aber rasch verströmt ist, da Seidl sich ausschließlich um die verworrene Psyche seiner Hauptfigur kümmert. Richie, der sonst nichts und niemanden ernst nimmt, wird hart auf den Boden der Realität gestoßen. Nicht aus Einsicht eigener Schuld, sondern nur, weil Tessa ihm mit ihrem undurchsichtigen Begleiter nicht von der Pelle rückt, will er ihre Forderungen begleichen. Was zunächst nur heißt, dass er ohne Skrupel auf das Sparbuch seines Vaters zugreifen will. Als das nicht reicht, setzt er Videos seiner heimlich gefilmten Gigolodienste zur Erpressung seiner Kundinnen ein. Derweil darf Tessa mit ihrer dubiosen ausländischen Entourage aus dem Flüchtlingslager in Vaters feine Villa umziehen. Wenn Richie in einem leeren Saal nur für Tessa sein Lied singt, könnte man ihm die Krokodilstränen für einmal wirklich glauben und ihm Erlösung wünschen – oder die Szene für den Gipfel der Seidlschen Peinlichkeiten halten. Ein klägliches „Happyend“.
Rimini
Regie: Ulrich Seidl
Unter anderem mit: Michael Thomas, Tessa Göttlicher, Hans-Michael Rehberg
Im Kino