Christina Seidels „Und abends kuscheln mit Mama“

Protokolle werden zum Porträt einer Gesellschaft

Von Rüdiger Bernhardt

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Christina Seidel

„Und abends kuscheln mit Mama“

Die ersten sieben Jahre mit den „Weihnachtskindern“

Mitteldeutscher Verlag GmbH, 288 S., 12,95 Euro

Sieben um Weihnachten 2007 Neugeborene hat die Schriftstellerin Christina Seidel sieben Jahre, bis zum Schulbeginn, begleitet: „Die einzige Gemeinsamkeit ist ihr Geburtsdatum“, die mythische Bedeutung der Sieben – „eine schöne Zahl“ – hatte es ihr angetan: Sie sah sich einem „Buch mit sieben Siegeln“ gegenüber, acht wurden es, als die 1992 aus Rumänien übergesiedelte Dagmar Martin sich entschloss, mit ihrer Tochter ebenfalls an dem Projekt teilzunehmen, elf hätten es sein können.

Während eines Urlaubs in Schöneck (Vogtland) am Jahresende 2007 lernte Christina Seidel die Kinder durch ein Bild in der Zeitung kennen: Die Klinik veröffentlichte die über Weihnachten dort Geborenen. Christina Seidel nahm Verbindung mit den Familien auf – der Begriff „Familie“ in seiner traditionellen Bedeutung entspricht in den beschriebenen Fällen allerdings selten den tatsächlichen Verhältnissen – und besuchte die acht Kinder mit ihren Müttern und deren teils wechselnden Lebenspartnern Jahr für Jahr. Sie ließ sich von Fortschritten und Wünschen erzählen, beobachtete selbst die Veränderungen, sie mit wenigen Andeutungen kommentierend. Zusätzlich traf sie sich insgesamt fünf Mal mit Kindern und Müttern. Unterstützt wurde die Autorin dabei vom Familienverband in Auerbach und von Manfred Deckert, dem OB der Stadt, die sie auch finanziell förderte, vom IFA-Ferienpark Hohe Reuth in Schöneck und anderen Einrichtungen.

Auerbach ist als Ort beschrieben, in dem mit dem Park der Generationen etwas für Freizeit und Kinder geschaffen wurde, aber es gab trotzdem manche Klagen über den Umgang mit Müttern und Kindern; andere Orte haben solche „freiwilligen Leistungen“ gekürzt oder gestrichen.

Erstaunlich ist die Offenheit, mit der die Mütter über sich und ihre Kinder erzählen und intime Einblicke in ihre teils schwierigen und nicht geradlinigen Lebensführungen geben; manches Erzählte kommt von Müttern, die selbst noch erziehungsbedürftig sind und kaum in der Lage scheinen, ihr Leben erfolgreich zu meistern, sich auch nicht darum kümmern, „irgendwie komm ich schon klar mit Hartz IV und Wohngeld“. Ein so gering ausgeprägtes Selbstwertgefühl wird bereitwillig ausgestellt. Fast in der Mitte ihrer Protokolle stellt die Autorin resigniert fest, dass nur zwei von acht Müttern durch Arbeit geprägt werden (S. 115), während doch Arbeit wichtig sei, weil sie den Menschen forme. Andere Beispiele weisen aus, wie junge Menschen größter Unsicherheit ausgesetzt sind, Arbeitsverträge befristet gelten, familiäre und soziale Sicherheit nicht geschaffen werden kann, schließlich nicht mehr gewollt wird und das Leben in Gleichgültigkeit mündet.

Fragwürdig sind die ungenügenden Kenntnisse einiger der jungen Mütter über das Land ihrer Eltern, die DDR. Da wird geschwafelt, man habe in der DDR sein Kind „mit sechs Wochen in die Krippe geben müssen“; von den großzügigen Leistungen des Staates für Eltern und Kinder ist kaum noch Kenntnis vorhanden. Wenige wissen davon und loben, dass es „familiärer und herzlicher“ in manchen Kindergärten zugehe, wie zu DDR-Zeiten. Die Autorin beschloss während der Kontakte, die Eltern nach ihren Kenntnissen von der DDR zu fragen: Wenig ist vorhanden, die größte Errungenschaft nach deren Untergang – „toll“ – sei, „jetzt überall hinreisen“ zu können, das ist die ganze populistische Freiheit. Manchmal wird deutlich, dass man sich in der DDR wohlgefühlt hat und erst danach durch die Medien belehrt wurde, „in was für einem Land man aufgewachsen ist“.

Die jungen Eltern gehen fast durchweg nicht mehr wählen, weil die Politiker „alle mit Lügen die Taschen vollhauen“; dass sie damit den letzten Rest ihrer gesellschaftlichen Verantwortung und ihre soziale Präsenz preisgeben, wird ihnen nicht bewusst. Politikverdrossenheit ist zur Normalität geworden. Es drängt sich bei der Lektüre der Protokolle der Verdacht auf, ob nicht politische Absicht hinter diesem Politikverständnis steckt, wenn auch nur wenige Stimmen für das herrschende System abgegeben werden, reicht das zum Machterhalt. Politikverdrossenheit als Zweck der Politik? Eine Familie stimmt für die CDU, nicht aus politischen Gründen, sondern „die ist doch hier in Sachsen die stärkste Kraft“. Diese Familie erklärt auch Kohls misslungene Verheißung von den „blühenden Landschaften“ mit dessen Unkenntnis, „wie marode das Ganze“ gewesen sei. Dass es gerade die vogtländische Textilindustrie mit ihren modernen Spinnereien und Webereien war, die nach der Wende in den Ruin getrieben und deren Maschinen teilweise nach dem Westen transportiert wurden, um einen unliebsamen Konkurrenten zu beseitigen, der bis dahin die westdeutschen Versandhäuser beliefert hatte, ist unbekannt. Eine andere Mutter sieht als mögliche Alternative zur Politikverdrossenheit die NPD, wegen der „zu vielen Ausländer“, die zu viel Geld bekämen – der Populismus von PEGIDA und ähnlichen Bewegungen wuchert.

Die Eltern der Kinder haben sich nur in einem Fall nicht getrennt, die familiären Umstände, unter denen die Kinder aufwachsen und erzogen werden, sind in einigen Fällen problematisch. Auch Drogen spielen eine Rolle und werfen eine Familie völlig aus der Bahn; das verbindet sich schnell mit der Feststellung, man habe „keine Lust zu arbeiten“. In einem Fall war der jungen Mutter schon in der Ausbildung „der Weg zu weit, die Lust zu gering“. Vier der acht Mütter beziehen Hartz IV. Diese Lösung ist nur bedingt die Schuld der Eltern, sie liegt im gesellschaftlichen System. Mehrere Mütter lehnen das Betreuungsgeld ab, ihre Gründe sind vernünftig (S. 206). Die an der Stelle eingeschobene gesetzliche Regelung ist inzwischen vom Tisch; manchmal siegt die Vernunft.

Es fällt auf, dass Christina Seidel in keinem ihrer zahlreichen Gespräche mit den Eltern auf Kunst und Kultur zu sprechen kommt, weder von sich aus noch bringen ihre Partner das ins Gespräch ein. Selbst im Interview mit dem OB von Auerbach fällt dazu kein Wort. Dabei gibt es in Auerbach eine sehr rege Stadtbibliothek, die auch Kinder zu fördern versucht, und es ist der Ort, in dem die Vogtländische Literaturgesellschaft „Julius Mosen“ vielfältig wirkt; davon fällt kein Wort. Es ist kein Wunder, dass der Kulturreferent von Plauen – der größten Stadt des Vogtlands – kürzlich entlassen und die Stelle nicht neu besetzt wurde. Vorhaben, die bereits in Angriff genommen wurden, bleiben liegen. Bei Christina Seidel werden solche Vorhaben nicht genannt, denn „Kultur ist Nebensache, der Markt bestimmt die sozialen Beziehungen“, womit ein Edeka-Markt gemeint ist.

Christina Seidel, promovierte Chemikerin und in der Wendezeit arbeitslos geworden, lernte in einem Zirkel schreibender Arbeiter seit 1983 das Schreiben: „Ob man Schreiben lernen kann? Ich konnte es“, schrieb sie im „Halleschen Autorenheft 12“ (1998). Sie schrieb vor allem für Kinder und über Kinder, Vorbilder wie Astrid Lindgren vor Augen, und leitete auch Kinder zum Schreiben an. Das von ihr Gelernte ist auf fruchtbaren Boden gefallen und wurde von ihr weitergegeben. Aus der Herkunft aus einem Zirkel entstand das soziale Engagement, das ihr Schreiben immer beeinflusste. Das Bild mit den Neugeborenen 2007 löste den plötzlichen Einfall aus, der sich aber doch dem eigenen Schreibprogramm verpflichtete: Sie beschloss, über diese Kinder zu schreiben und sie über Jahre zu begleiten und einem berühmtes Vorbild zu folgen, den „Kindern von Golzow“. Die Langzeitdokumentation wird genannt, „eine einmalige Chronik“: Begonnen wurde sie 1961 und sie dauerte bis 2007, 20 Filme entstanden mit 45 Stunden Material. Die Lebenswege von 18 Menschen wurden begleitet in der DDR, in der Wendezeit und in dem widersprüchlichen „Vereinigungs“vorgang. Das alles lag zum Zeitpunkt, als Christina Seidel ihr Projekt begann, hinter den Menschen. Aber die Tradition, in der die Autorin ihre Absicht und ihr Buch sieht, wird deutlich.

Sparsam kommentiert das Buch territoriale Angaben, macht auf Hintergründe aufmerksam, die Angaben bei Wikipedia sind wie üblich mit Vorsicht zu verwenden. So ist das Vogtland tatsächlich hervorgegangen aus der Herrschaft der Vögte von Weida und war nicht nur in deren Verwaltung. Das Rathaus von Falkenstein wird in dem Buch (S. 86) mit dem bescheidenen „Schloss“ verwechselt, in dem einst die Trützschlers wohnten, aus deren Reihen jener Trützschler kam, der an der badischen Revolution 1848 beteiligt war und der von den Preußen 1849 standrechtlich erschossen wurde; heute sind Sparkasse und Heimatmuseum in dem Haus, nicht aber das Rathaus, das repräsentativer ist und 300 m weiter steht.

Zwei Sprachen finden sich in den Berichten: Einmal schreibt die Autorin sachlich, fast nüchtern von den Fahrten ins Vogtland und ihren Begegnungen; die Erzählungen der Eltern werden teils mundartlich – bzw. was Christine Seidel dafür hält –, teils umgangssprachlich geboten, weitere soziale Aufschlüsse und Einblicke werden gegeben.

Ein Nachwort von Astrid von Friesen geht leider nur auf Pädagogisches ein, das wird dem Buch nicht gerecht. Christina Seidel hält sich mit sozialen und gesellschaftlichen Verallgemeinerungen zurück, lässt sie aber erkennen. Das aufwändig erarbeitete Buch ist weit mehr als der Bericht über acht Kinder und ihre Familien. Der ungeschönte sachliche Bericht über diese acht Kinder, von ihrer Geburt 2007 bis zum Schulbeginn, beschreibt hauptsächlich acht individuelle Schicksale, die sehr unterschiedlich sind, unterschiedlich verlaufen und nur in Maßen die Hoffnungen der Eltern erfüllen werden, aber die Berichte zusammen sind darüber hinaus eine Beschreibung eines wirtschaftlich nach 1989 beschädigten Gebietes und seiner Bevölkerung, die ärmer, älter und weniger wird. Es ist auch, wie Christina Seidel schreibt, die Beschreibung, „dass unsere Gesellschaft nicht familienfreundlich ist“. (S. 217) Dass Christina Seidel ihre „Weihnachtskinder“ im Vogtland fand, war Zufall; was sie vorfand jedoch nicht: Es war eine soziale Wirklichkeit voller ungelöster Fragen, normal in Deutschland, nur zugespitzter im Vogtland.

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"Protokolle werden zum Porträt einer Gesellschaft", UZ vom 20. November 2015



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