UZ: Ihre Organisation hat am 1. Mai die bundesweite Initiative „Heraus zum 1. Mai“ unterstützt, die trotz der grassierenden Corona-Pandemie zu Protesten am „Internationalen Kampftag der Arbeiterklasse“ aufgerufen hat. Warum haben Sie es nicht wie die DGB-Führung gemacht und ihre Proteste ins Internet verlegt?
Julia von Lindern: Uns ist es wichtig gewesen, öffentlich sichtbar zu sein. Gerade in dieser Zeit, in der eine Vielzahl von Grund- und Freiheitsrechten eingeschränkt worden ist, ist es dringend erforderlich, sich wahrnehmbar politisch zu positionieren. Wir mussten uns das Recht auf unsere Kundgebung juristisch erstreiten, was einen absoluten Skandal darstellt.
UZ: Inwiefern?
Julia von Lindern: Wir hatten von vornherein klargestellt, dass wir uns an die Gesundheitsschutzbestimmungen gebunden fühlen. Das heißt, wir haben dazu aufgerufen, die notwendigen Abstandsregeln einzuhalten und auch einen Mund-und-Nasen-Schutz zu tragen. Insofern gab es keinen Grund, unsere Proteste nicht zu genehmigen. Wir konnten den Schutz der Teilnehmerinnen und Teilnehmer durchgängig gewährleisten. Im Übrigen haben sich alle von den Behörden vorgeschobenen Verbotsgründe als haltlos erwiesen. Alle unsere Teilnehmerinnen und Teilnehmer bei der Kundgebung in Düsseldorf haben sich an die Vorgaben gehalten.
UZ: Ist die bundesweite Initiative dann auch als Kritik oder Konkurrenz zu den Gewerkschaften zu verstehen?
Julia von Lindern: Nein. Ich bin zwar persönlich der Meinung, dass die Gewerkschaften ihre traditionellen Proteste auf der Straße zu früh abgesagt haben, aber das ist nicht als Vorwurf zu verstehen. Insofern haben sich die Kundgebungen und Demonstrationen, die es am 1. Mai in allen größeren Städten auf der Straße gab, mit den virtuellen Aktivitäten im Internet gut ergänzt. Man darf ja auch nicht vergessen, dass es in einzelnen Städten, die unser Bündnis nicht explizit unterstützt haben, auch noch andere linke Proteste gab.
UZ: Also sind Sie zufrieden mit dem Verlauf der Proteste?
Julia von Lindern: Unter den vorherrschenden Bedingungen konnte man wohl nur das rausholen, was wir gemacht haben. Also kleinere Kundgebungen und Aktionen. Trotzdem bin ich zufrieden. In mehreren Dutzend bundesdeutscher Städte haben sich uns Menschen angeschlossen, unsere Initiative unterstützt und haben im wahrsten Sinne des Wortes Flagge gezeigt. Trotzdem halte ich auch überhaupt nichts davon, so zu tun, als existierte keine Pandemie. Ich finde, wir alle tragen auch Verantwortung für andere und nicht nur für uns selbst. Wir haben versucht, einen bestmöglichen Kompromiss des Rechtes auf Gesundheit und des Rechtes auf Versammlungsfreiheit zu finden. Ich glaube, das ist uns weitestgehend gelungen.
UZ: Welches politische Spektrum hat an den Kundgebungen teilgenommen?
Julia von Lindern: An unserer Kundgebung in Düsseldorf haben Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter, Antifa-Gruppen, Mitglieder von DKP, der SDAJ, der Linkspartei teilgenommen. Auch Unterstützer von sozialen und umweltpolitischen Initiativen, aus der Friedensbewegung und aus den Bündnissen von Krankenhausmitarbeiterinnen und -mitarbeitern haben teilgenommen. In etwa so hat sich das Spektrum auch in den anderen Städten bundesweit zusammengesetzt.
UZ: Und welche Themen haben die Proteste dominiert?
Julia von Lindern: Natürlich stand erst mal einiges im Zeichen der Pandemie und der sich daraus ergebenden Folgen. Es wurde zur Verteidigung des Versammlungsrechtes und zur Solidarität mit den wirklich „systemrelevanten“ Berufen aufgerufen – also mit Pflegekräften, Reinigungskräften und Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Müllabfuhrbetriebe. Auch mit den Menschen, die in Sozial- und Erziehungsberufen arbeiten. In übergroßer Mehrzahl sind es übrigens Frauen, die in den „systemrelevanten“ Berufen arbeiten – und zwar unter weitestgehend ausgesprochen schlechten Bedingungen. Die Pandemie hat vieles von dem zu Tage gebracht, was wir als Linke schon seit Jahrzehnten kritisieren. Nämlich, dass das Gesundheitssystem verstaatlicht werden muss und welche Berufe für eine Gesellschaft unabdingbar sind. Darüber hinaus ist der 1. Mai natürlich der Tag der internationalen Solidarität der Arbeiterinnen und Arbeiter weltweit, an dem sich schon aufgrund unserer aller Interessen auch gegen Militarisierung, Aufrüstung und Krieg positioniert werden muss. Das haben wir getan. Dass der Kapitalismus nicht das letzte Wort der Geschichte sein darf, muss ich sicherlich hier an dieser Stelle nicht betonen.
Das Gespräch führte Markus Bernhardt