Der 8. und der 9. Mai im Zeichen antirussischer Hetze und Repression. Berlin war wieder Haupt- und Frontstadt

Prorussische Friedenstaube

Der 8. Mai 1945 fand außer bei Kommunisten und Antifaschisten in Westdeutschland nie besondere Beachtung. 2022 lautete die Anschlusssprachregelung zu „Zusammenbruch“ oder „Stunde Null” bei Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier und Bundeskanzler Olaf Scholz in Ansprachen am Sonntag beim DGB-Bundeskongress beziehungsweise im Fernsehen „Ende des Zweiten Weltkriegs“. Das Wort „Befreiung“ verwendeten sie nur als Zitat aus der Rede Richard von Weizsäckers aus dem Jahr 1985 oder beiläufig. Im Vordergrund stand der deutsche Anspruch, gegenüber Russland als militärische Großmacht aufzutreten – von Scholz in die Formel gefasst, Sorgen über Waffenlieferungen müsse man ausdrücken können, aber: „Angst darf uns nicht lähmen.” Womit Hochrüstung und Kanonenspenden an die Ukraine für ihn hinreichend gerechtfertigt sein dürften.

Erinnerung in Ost und West

In der DDR war der „Tag der Befreiung” lange Zeit ein gesetzlicher Feiertag. Viele ihrer Bürger gedachten an den vielen Gedenkstätten für die Soldaten der Roten Armee in Ostdeutschland auch nach 1990 der Toten und am 9. Mai noch einmal, in der Regel gemeinsam mit sowjetischen beziehungsweise russischen Soldaten. Die Tradition blieb nach deren Abzug 1994 in vielen Dörfern und Städten zwischen Rügen und Erzgebirge lebendig.

Diese Spaltung der Erinnerung hält an und dürfte sich in diesem Jahr vertieft haben. Ein Beispiel: Am 17. Februar richtete der Landrat des brandenburgischen Landkreises Märkisch-Oderland, Gernot Schmidt (SPD), zusammen mit zwei Politikern der Linkspartei und dem parteilosen Bürgermeister der Kreisstadt Seelow einen Brief an „Seine Exzellenz, den Präsidenten der Russischen Föderation, Wladimir Putin”. Sie seien „tief beunruhigt vom verbalen Aufrüsten in großen Teilen der westlichen Welt“. Für sie aber gelte „die Verpflichtung, Versöhnung über den Gräbern zu leben und zu gestalten”. Das Schreiben endet mit einer Einladung an Putin zum 50-jährigen Jubiläum der Gedenkstätte Seelower Höhen. Dort fand vom 16. bis zum 19. April 1945 die größte Schlacht des Zweiten Weltkrieges auf deutschem Boden statt. 33.000 Rotarmisten und etwa 12.000 Soldaten der Wehrmacht kamen in ihr ums Leben, insgesamt wurden in der Region seit dem Überschreiten der Oder durch sowjetische Truppen im Januar 1945 mehr als 100.000 Menschen getötet.

Zwei Tage nach Versenden des Briefes verhörte der „Spiegel” Landrat Schmidt, weil der Text schon durch die Anrede „Exzellenz” „weich und unterwürfig” sei. Zahlreiche Medien schlossen sich an. Schmidt sah aber zum Entsetzen der meisten Journalisten keinen Grund, zurückzurudern. Erst nach dem 24. Februar nannte er die Einladung „einen Fehler” und lud russische Vertreter wieder aus. Am 8. Mai gedachten aber rund 60 Menschen bei einer bewusst nicht stillen Zeremonie der Toten: Der Redner der Partei „Die Linke“, Kreisfraktionschef Uwe Salzwedel, äußerte sich gegen das Aufstocken des Bundeswehretats und die Lieferung schwerer Waffen an die Ukraine. Ähnliches geschah an vielen Stellen in Ostdeutschland an diesem 8. Mai.

„Bild“ mit Schnappatmung

Auch im Westen der Republik fanden am 8. und 9. Mai Manifestationen statt, die zum Beispiel in der „Bild” zu Schnappatmung führten. Die Zeitungssimulation berichtete am Montag, „Szenen der Schande” hätten sich am 8. Mai zugetragen, etwa in Köln, wo „prorussische Teilnehmer” bei einer Gedenkmanifestation „nach Herzenslust Flagge zeigen” durften. Am Fühlinger See hätten sich rund 1.000 Menschen zu einem Autokorso versammelt, auch in Frankfurt am Main habe es prorussische Demos mit Flaggen Russlands und der Sowjetunion gegeben.

In Berlin konnte das an beiden Tagen nicht passieren. Die Hauptstadt der nun endlich militärisch entfesselten Bundesrepublik eilte dem Glanz der bald wieder schimmernden Wehr voraus, schränkte also die Versammlungsfreiheit ein und hatte per Polizeiverordnung vom 8. Mai 6.00 Uhr bis 9. Mai 22.00 Uhr an fünfzehn Gedenkstellen im Stadtgebiet unter anderem verboten: Tragen von militärischen Uniformen, von militärischen Abzeichen, das Zeigen der Buchstaben „V” oder „Z”, das Zeigen von St.-Georgs-Bändern, das Zeigen von Fahnen und Flaggen mit russischem oder ukrainischem Bezug, „das Zeigen von Symbolik und Kennzeichen, die geeignet sind, den Russland-Ukraine-Krieg zu verherrlichen, zum Beispiel das Zeigen der Flagge der UdSSR, das Verwenden von russischen oder sowjetischen Militärflaggen“ und das Spielen und Singen russischer/ukrainischer Marsch- oder Militärlieder. Ausnahme: Veranstaltungen diplomatischer Vertretungen.

Berlin ist für alle übrigen wieder Frontstadt. Antikommunismus und Geschichtsfälschung werden schlicht mit dem Polizeiknüppel durchgesetzt – beispielhaft fürs kommende Deutschland.

Groteske Willkür

Das Resultat ist eine Mischung aus grotesker Willkür, fürsorglichem Umgang mit bekennenden ukrainischen Nationalisten und Faschisten und – unterstützt von Denunzianten aus der „ukrainischen Community” – systematischer Jagd auf öffentlich gezeigte sowjetische Symbole. Zu denen zählte zum Beispiel beim Sicherheitspersonal vorm Deutsch-Russischen (Kapitulations-)Museum in Berlin-Karlshorst, das gerade seine beiden Attribute ablegen will, ein Button mit der Friedenstaube. Erst eine herbeigeholte leitende Angestellte ließ am Sonntag eine Besucherin ein – unter der Auflage, die offenbar als „prorussisch“ erkannte Vogeldarstellung nicht offen zu tragen. Analog im Ehrenmal Treptower Park – Grabstätte für 7.000 Rotarmisten –, in dem zwei riesige, aus rotem Granit gefertigte sowjetische Fahnen den Weg zur Statue des sowjetischen Soldaten flankieren: Die DKP muss die kleine Fahne der Sowjetunion auf einem ihrer Banner überkleben.

Kleidungsinspektion am Eingang ist obligatorisch, aber es kommen wesentlich weniger Menschen als in den Vorjahren, die Abschreckung wirkt. 1.800 Polizisten sind insgesamt aufgeboten, um den Verbotskatalog durchzusetzen. Wer sich auf den Weg machte, verzichtete zumeist auf Flaggen und Symbole. Das galt auch für das „Unsichtbare Regiment”, das sich am 9. Mai mit Porträts von im Zweiten Weltkrieg getöteten russischen Angehörigen zum Ehrenmal im Tiergarten bewegt. Nur vereinzelt stimmen die etwa 2.000 Menschen Lieder an.

Ukrainischer Wächterrat

Da aber doch an einigen Gedenkstätten russische und sowjetische Fahnen zu sehen sind, richtete die „Allianz Ukrainischer Organisationen” laut „Berliner Zeitung” noch am Montag einen Brief an die Regierende Bürgermeisterin Franziska Giffey (SPD) und Polizeipräsidentin Barbara Slowik, weil die Polizei weitgehend „tatenlos geblieben” sei. Ein Aufruf zum Verpetzen per Bild und Video folgt – die Fans des ukrainischen Botschafters und Anhängers des Antisemiten und Massenmörders Stepan Bandera, Andrij Melnyk, formieren sich zu einem neuen Wächterrat.

Melnyk hatte sich ebenso wie sein Chef, Kiews Außenminister Dmytro Kuleba, über die Polizeiverfügung in Berlin empört, weil sie auch ukrainische Flaggen betraf: „Ein Schlag ins Gesicht des ukrainischen Volkes.“ Als er am 8. Mai, den er auf Twitter als „Muttertag” würdigte, am Ehrenmal im Tiergarten zu einer Kranzniederlegung erscheint, sorgt die Polizei dafür, dass jeder Träger ukrainischer Fahnen ihm folgen darf – vermutlich, weil alle als Diplomaten identifiziert wurden. Nur das Entrollen einer 25 Meter langen Ukraine-Fahne vor dem Ehrenmal wird nicht zugelassen, was „Welt“, „Bild” und andere Medien zur Raserei bringt. Anschließend verlangt Melnyk bei einer Rede im Brandenburger Landtag analog zum Mahnmal für die ermordeten Juden Europas ein Mahnmal für „acht Millionen ukrainische Opfer der Nazigewaltherrschaft”. Der Mann hat noch viel vor und darf deswegen abends bei „Anne Will” seinem Auftrag, endlich nach Bandera-Vorbild eine zu allem bereite Kriegsmoral in der Bundesrepublik zu etablieren, wieder einmal nachkommen.

Am Ehrenmal war er mit „Hau ab!”- und „Nazi raus”-Rufen empfangen worden – an seiner Seite Landwirtschaftsminister Cem Özdemir (Die Grünen) und Berlins Kultursenator Klaus Lederer (Die Linke). Auf Twitter schämt der sich anschließend für die Buhrufer „aus dem Kontext der Friedensbewegung”. Ralf Fücks (Die Grünen), der auch dabei war, weiß noch Genaueres: Melnyk sei „von einem ‚linken‘ Mob um die ‚junge Welt‘” empfangen worden. Kein Krieger ohne Halluzinationen und keiner ohne klares Feindbild.

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"Prorussische Friedenstaube", UZ vom 13. Mai 2022



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