Zum Neuesten aus dem Verkehrsministerium

Propagandaticket

„Wir sind uns einig. Deutschland bekommt ein neues Nahverkehrsticket“, sagt Bundesverkehrsminister Volker Wissing (FDP) fröhlich in die Kamera. Szenenwechsel. Der Minister steht am fast leeren Bahnsteig. Fragend blickt er auf die soeben eingefahrene U6 nach Tegel und vermittelt dabei den Eindruck, noch nie eine U-Bahn-Station von innen gesehen zu haben. Die Stimme des Ministers erzählt von der „größten Reform des öffentlichen Personennahverkehrs, die unser Land jemals kannte“. Es ist ein banger Moment. Findet er die Tür? Nein. Die U6 fährt weiter; Wissing läuft am Zug entlang. „Deutschland wird fortschrittlicher mit dem Deutschlandticket“, sagt er noch. Dann endet das 36-sekündige Werbevideo des Bundesverkehrsministeriums.

Wer sehen wollte, wie sich der Minister zum Pöbel in die Bahn quetscht, bleibt enttäuscht vor dem Bildschirm zurück. Auch der Propagandazweck heiligt eben nicht alle Mittel. Noch nicht einmal dann, wenn das 49-Euro-Ticket als größte aller Reformen verkauft werden soll – eine maßlose Überhöhung. Das Ticket könnte teurere Monatskarten ablösen und vielen Menschen, die bereits mit Bus und Bahn unterwegs sind, von Nutzen sein. Damit enden die Vorzüge des „Deutschlandtickets“ leider auch schon. Als Sozial- oder Familienticket taugt es nicht, weil es zu teuer ist. Für Gelegenheitsfahrer ist es uninteressant, weil es nur im Jahres-Abo zu haben ist. Zum Klimaticket reicht es nicht, weil der Umstieg auf den öffentlichen Personennahverkehr nicht nennenswert vorangetrieben wird. Und angesichts der galoppierenden Lebenshaltungskosten wirkt es ohnehin wie ein Tropfen auf den heißen Stein.

Dass das Ticket überhaupt kommt, ist bislang keineswegs sicher. Die Länder verbinden ihre Zustimmung mit der Forderung nach zusätzlichen Mitteln vom Bund. Auch die Eisenbahngewerkschaft fordert mehr Personal, mehr Fahrzeuge und höhere Investitionen, um das „Deutschlandticket“ stemmen zu können. Denn an den Hauptproblemen des ÖPNV, an den geringen Kapazitäten und dem Fehlenden von Verbindungen, ändert die größte Nahverkehrsreform aller Zeiten gar nichts. Mangelnde Finanzierung könnte sogar dazu führen, dass das bisherige Angebot reduziert wird. Immerhin ein Gutes hätte die Sache: Wenn keine Bahn mehr fährt, müssen wir dem Minister nicht noch einmal beim Türesuchen zuschauen.

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"Propagandaticket", UZ vom 21. Oktober 2022



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