Im zweiten Teil des Artikels in der nächsten Woche berichtet Patrik Köbele unter anderem über die Rolle der Kommunistischen Partei und die internationalen Rolle der VR Chinas.
Drei Vorbemerkungen seien erlaubt:
Erstens: Ich war Anfang der 90er Jahre in der VR China, damals in Beijing, Xi‘an und Schanghai. Anlass der jetzigen Reise war eine Konferenz, zu der die Kommunistische Partei Chinas kommunistische und Arbeiterparteien im Rahmen ihres Programms „Die KP Chinas im Dialog mit Parteien aus aller Welt“ eingeladen hatte. Die Konferenz fand in Shenzhen statt, das Programm führte noch nach Beijing, in die Hauptstadt, und nach Fengyang. An der letzten Etappe konnte ich aufgrund terminlicher Probleme nicht mehr teilnehmen. Der Einladung waren 113 Teilnehmerinnen und Teilnehmer aus rund 70 Parteien und 50 Ländern gefolgt. Trotz alledem bin ich natürlich kein Chinaspezialist.
Zweite Vorbemerkung: China kann man nicht verstehen, wenn man sich nicht immer wieder den Unterschied der Dimensionen klarmacht. In der VR China leben rund 1,4 Milliarden Menschen, das sind 18 Prozent der Weltbevölkerung. Um an einem anderen Parameter deutlich zu machen, welche Probleme sich ergeben: Diese müssen mit 10 Prozent der Weltagrarfläche ernährt werden. Der letzte Parameter lag, wenn meine Aufzeichnungen stimmen, Anfang der 90er sogar noch niedriger, bei 6 Prozent – ob die Ursache der Veränderung in der Gewinnung von Agrarfläche oder an anderen Faktoren liegt, kann ich nicht sagen. Der Genosse der Portugiesischen KP beschrieb die Frage der Dimensionen mit einem Witz: „Ein paar Portugiesen kommen nach China und werden gefragt, wie viele Einwohner Portugal hat. Sie antworten: ‚10 Millionen‘, worauf die chinesischen Gastgeber zurückfragen: ‚Und, in welchem Hotel wohnen die?‘“ Tatsächlich gibt es in der VR China Städte wie Beijing und Shanghai, die jeweils eine Einwohnerzahl haben, die einem Viertel der Einwohnerzahl der BRD entspricht.
Die dritte Vorbemerkung: Eurozentrismus ist immer ein schlechter Berater, erst recht außerhalb Europas. Betrachtet man die VR China, sind mindestens die historischen, kulturellen und nationalen Besonderheiten zu berücksichtigen. Ich nenne als Beispiele:
– Die lange Phase der imperialistischen Unterdrückung, die hohe Bedeutung der nationalen Befreiung.
– Die Besonderheit, dass die sozialistische Revolution in einer Phase erkämpft wurde, als die Arbeiterklasse zahlenmäßig noch sehr klein war und über wenig Traditionen verfügte. Es gab kaum eine bürgerlich-demokratische Tradition. Die Bauernschaft und die revolutionären militärischen Formationen spielten dagegen eine sehr große Rolle. Zu beachten ist auch die Parallelität der nationalen Befreiung mit der sozialistischen Revolution. Und dass dies alles in einem Land stattfand, das damals zu den ärmsten Ländern der Welt gehörte.
– Die Besonderheit in der Entwicklung der Partei – sie wurde 1921 mit wenigen Dutzend Mitgliedern gegründet und erlangte 1949 die führende Rolle in diesem Riesenland.
– Das lange Schisma der kommunistischen Weltbewegung, die tiefe Gegensatz gegenüber den meisten kommunistischen Parteien. Eine Entwicklung, die die VR Chinas außenpolitisch in Konfrontation mit der Sowjetunion – damals leider auch zur Annäherung an die Imperialisten – führte.
– Innere schwierige Phasen mit großen Opfern und Problemen in der eigenen Entwicklung, wie z. B. der „Große Sprung nach vorn“ oder die Kulturrevolution.
– Nicht zuletzt die Konterrevolution in den europäischen sozialistischen Ländern und der Versuch, diese auch in die VR China zu exportieren.
Wenn ich nun einen Vergleich zwischen meinem Besuch in den 90ern und jetzt ziehe, wobei zu berücksichtigen ist, dass ich diesmal nur in Metropolen war (damals fuhren wir auch mehrfach in ländliche Regionen), dann ist mir vor allem Folgendes aufgefallen:
Die gewaltige Dynamik der Entwicklung. Man spürt förmlich die enorme Entwicklung der Ökonomie. Man sieht sie in den Städten. Beijing war (mit Ausnahme der Sehenswürdigkeiten) nicht wiederzuerkennen – ich bekam den (sicherlich nur zum Teil richtigen) Eindruck, dass selbst die Bausubstanz völlig erneuert wurde. In Shenzhen war dies besonders spürbar. Diese für chinesische Verhältnisse „mittlere Stadt“ mit 10 Millionen Einwohnern wurde erst im Jahr 1978, mit Beginn der „Reform- und Öffnungspolitik“, gegründet. Es ist heute eine pulsierende, eine moderne, eine recht grüne Metropole.
Und trotzdem ist China, wie es auch Partei und Regierung offiziell verkünden, ein Entwicklungsland. Xinhua, die staatliche Nachrichtenagentur, veröffentlichte dazu am 6. Juni einen Artikel, der auch auf die offizielle Homepage der KP gesetzt wurde, in dem sowohl Erfolge als auch Probleme sehr offen benannt werden. Dort wird darauf verwiesen, dass es zwar in den letzten 5 Jahren gelungen sei, 68 Millionen Menschen – nach UNO-Kriterien – aus der Armut zu führen, aber immer noch „über 30 Millionen Chinesen, so viel, wie die Hälfte der Bevölkerung Frankreichs, unterhalb der Armutsgrenze leben“. Und auch „für die, die aus der extremen Armut herausgekommen sind, gelte, dass viele noch kämpfen müssen, um ihre täglichen Basisbedürfnisse zu befriedigen, speziell bei der Landbevölkerung“.
Es wird darauf verwiesen, dass China zwar das zweitgrößte Bruttoinlandsprodukt (BIP) der Welt habe, dass sich das aber 1,4 Milliarden Menschen teilen müssen. Im Artikel wird auch festgestellt, dass die Entwicklung und Verteilung alles andere als ausgeglichen sei. Es wird benannt, dass das BIP pro Kopf in der VR China heute bei 8 800 US-Dollar liege und damit immer noch unterhalb des weltweiten Durchschnitts von 10000 US-Dollar. Es wird benannt, dass dieser weltweite Durchschnitt nur einem Siebtel des Wertes der USA entspreche. Um von einer entwickelten Gesellschaft sprechen zu können, wird ein BIP von 12700 US-Dollar pro Kopf, und um von einer hochentwickelten Gesellschaft sprechen zu können, von 40000 US-Dollar pro Kopf gesprochen. Letzteres läge aber über dem BIP pro Kopf der BRD (etwas über 38000 US-Dollar). Das offizielle Ziel der VR China und der KP ist, bis 2021, also in drei Jahren, auch die jetzt noch 30 Millionen armen Menschen aus der absoluten Armut zu holen – mein Eindruck ist, die Dynamik ist so, dass sie das schaffen werden.
Ein zweiter Punkt, den ich im Vergleich zu den frühen Neunzigern spannend fand, ist, dass die führende Rolle der Partei überall – im öffentlichen Leben, aber auch in den Medien, Redebeiträgen usw. – eine wesentlich größere Rolle spielte. Dabei hatte ich nicht den Eindruck, dass das aufgesetzt ist.
Manches war für uns natürlich auch ungewohnt. Mein Lieblingsbeispiel: In Shenzhen bekam ich eine Tragetasche, die vom Äußeren bei uns eher in Modeboutiquen in besseren Stadtteilen verortet würde (aber Öko, kein Plastik) – modernes Design mit Hammer und Sichel und der Losung: „Folge unserer Partei – Beginne deine Geschäfte“. Ohnehin waren Hammer und Sichel im Stadtbild sehr präsent. Selbst im Foyer eines Hochhauses, in dem wir die Zentrale eines (privatwirtschaftlichen) Unternehmens besuchten, das Laserbeamer entwickelt, prangte groß Hammer und Sichel.
Unsere Delegation der Kommunistischen und Arbeiterparteien nahm neben den Teilnehmern weiterer Konferenzen – unter anderem einer großen Konferenz von Vertretern aus afrikanischen Ländern – an einem Festakt bzw. einer Präsentation zu den Erfolgen von 40 Jahren Reform- und Öffnungspolitik teil. Es war ungewohnt, dass dort auch hochrangige Manager bzw. Besitzer privatkapitalistischer Konzerne auftraten – sicher mindestens vielfache Millionäre –, um zu betonen, wie wichtig die führende Rolle der kommunistischen Partei für ihr Business sei.
Mein Eindruck: Die KP hat die führende Rolle und es gibt derzeit keine relevante gesellschaftliche Gruppe oder Klasse, die diese führende Rolle in Frage stellt – auch nicht die existierende Kapitalistenklasse. Diese hat sich derzeit, so mein Eindruck, darauf eingelassen und damit arrangiert, nicht die herrschende Klasse zu sein. Natürlich tut sie das auch, weil sie ökonomisch von der derzeitigen Situation profitiert – im wahrsten Sinne des Wortes.
Ein dritter Eindruck ist, dass im Vergleich zu meinem Aufenthalt in der 90ern ein größerer Wert auf die Vermittlung der marxistischen Weltanschauung gelegt wird und das dafür neue Medien und Techniken in interessanter Art und Weise eingesetzt werden. Ein Beispiel: In Shenzhen waren wir in einem Parteizentrum (zehn bis zwanzig Mal so groß wie unsere Parteizentrale in der Hoffnungstraße). Ein sehr offenes Gebäude, mit Bibliothek, Café – wohl auch ein Stadtteilzentrum. Dort gab es einen modernen Touchscreen, an dem man seine ideologische Qualifikation prüfen konnte, und einen Raum der Wünsche, in dem man, von der Außenwelt abgeschirmt, anonym seine Wünsche an die Partei notieren konnte.
Ein vierter Eindruck war, dass einige Probleme und Widersprüche der Entwicklung der chinesischen Gesellschaft offen diskutiert werden und auch in der Öffentlichkeit eine große Rolle spielen. Das gilt vor allem für die Fragen von Armut und Umweltschutz.
Bei Letzterer hatte ich den Eindruck, dass die Entwicklung auch widersprüchlich ist. Zwei Beispiele: In den 90er Jahren hatten wir Staus von Fahrrädern erlebt. Ich hatte damals (zu Recht) gesagt, dass mich das überzeugt hatte, dass der Individualverkehr (erst recht mit Verbrennungsmotoren) nicht die Zukunft der Menschheit sein kann. Heute hatte ich in Beijing den Eindruck, was es damals an Fahrrädern gab, gibt es heute an Autos – mit allen Problemen, die daraus folgen. Aber auch hier massives Eingreifen: E-Mobilität wird vorangetrieben – auch ausländische Konzerne werden gezwungen, den Anteil verkaufter E-Autos drastisch zu erhöhen. In Shenzhen ist bereits der gesamte Nahverkehr auf E-Busse umgestellt. Das bringt neue Probleme (Stromversorgung) und alte treten neu zu Tage. Fahrräder sind immer noch weit verbreitet, heute sind das aber Leihfahrräder. Das modernste System, das auch bei uns verbreitet ist (orte das nächste Fahrrad mit GPS, öffne das Schloss und bezahle mit deiner Handy-App) kommt aus der VR China. Es ist aber eine privatkapitalistische Entwicklung, darum gibt es in Beijing noch keine Integration in das öffentliche Ticket für den ÖPNV. Die Menschen müssen also zweimal zahlen – für die Fahrradleihe und für die U-Bahn.
Ein weiteres Beispiel zum Thema Umweltschutz: Von der großen Mauer kommend fuhren wir dem Stadtrand von Beijing entgegen. Neben der Autobahn erkannte ich ein Stahlwerk und fragte danach. Die Genossin, die mich betreute, antwortete mir, das sei jetzt aus Umweltschutzgründen geschlossen und im Landesinneren wiederaufgebaut worden. Hier mache man nun das, was es in Deutschland im Ruhrgebiet schon gebe: „Industriekultur“. Sie plane für das kommende Wochenende einen Familienausflug ins alte Stahlwerk.
Die Ziele Armutsbekämpfung und Umweltschutz, eine Stadtplanung, die als Prinzip unter anderem die Versorgung der Menschen mit Freizeitmöglichkeiten, kulturellen Möglichkeiten, Einrichtungen des Gesundheitswesens, Bildungseinrichtungen hat, werden viel diskutiert. Und mein Eindruck ist, dass dies auch stringent durchgesetzt wird.