Alle 250 Beschäftigten mussten gehen, als das kommunale Verkehrsunternehmen in Pforzheim abgewickelt wurde. Sie verloren ihre Arbeitsplätze, weil die private „Regional Verkehr Südwest GmbH (RVS)“, ein Tochterunternehmen der DB Regio, den Betrieb der städtischen Buslinien übernahm. Wenige wurden wieder eingestellt – zu deutlich schlechteren Bedingungen. Die Privatisierung des Öffentlichen Personennahverkehrs (ÖPNV) in Pforzheim war ein Fanal, denn sie war ein erzwungener Akt; eine feindliche Übernahme, der noch viele weitere folgen werden. Schuld daran ist eine Regelung, die 2013 in das Personenbeförderungsgesetz (PbefG) aufgenommen wurde: der sogenannte „Vorrang eigenwirtschaftlicher Verkehre“. Diese Vorschrift zwingt die Gemeinden dazu, ihren ÖPNV an private Unternehmen zu vergeben, wenn diese behaupten, den Verkehr zukünftig ohne öffentliche Zuschüsse gewährleisten zu können. Obwohl sich die konkreten Auswirkungen dieser Gesetzesänderung erst langsam abzeichnen, ist schon jetzt klar: Die Novelle ist ein Angriff auf die öffentliche Daseinsvorsorge, auf die kommunale Selbstverwaltung und auch auf die Rechte und Löhne der mehr als 130 000 Beschäftigten in deutschen Nahverkehrsbetrieben.
Bisher betreiben die meisten Kommunen den ÖPNV gemeinwirtschaftlich. Sie unterhalten kommunale Verkehrsgesellschaften, welche sie mit dem Betrieb von Bus- und Bahnlinien beauftragen und jährlich mit teils gewaltigen öffentlichen Zuschüssen unterstützen. Im Gegenzug können diese städtischen Gesellschaften dazu verpflichtet werden, Tariflohn zu zahlen, eine bestimmte Anzahl an Buslinien in einer vorgegebenen Taktung zu bedienen, vorgegebene Ticketpreise nicht zu überschreiten, Sozialtickets anzubieten und den Schulverkehr durchzuführen. Die Gemeinderäte beschließen den Nahverkehrsplan und geben beispielsweise vor, dass auch dünn besiedelte und abgelegene Ortsteile angefahren werden müssen. Diese Strukturen und Vorgaben unterscheiden sich natürlich von Ort zu Ort. Doch es gilt das Grundprinzip: Ein guter Nahverkehr kann sich nicht allein durch Ticketeinnahmen finanzieren und muss daher, als Teil der öffentlichen Daseinsvorsorge, politisch gesteuert und öffentlich bezuschusst werden.
Durch den „Vorrang eigenwirtschaftlicher Verkehre“ ist diese Konstruktion in Gefahr. Private Verkehrsunternehmen nutzen die Klausel, um kommunale Unternehmen und damit die Städte selbst vollständig aus dem Geschäft zu drängen. Sie müssen in ihrem Antrag lediglich in Aussicht stellen, den Nahverkehrsplan auch ohne öffentliche Zuschüsse zu erfüllen. Allerdings ist hierfür kein vollständiger Nachweis erforderlich und es gibt auch keine Sanktionsmöglichkeiten gegen Unternehmen, die später von den Planvorgaben abweichen und unprofitable Linien nicht mehr bedienen. Auch an sonstige Vorgaben, etwa zur Tariftreue, zu Sozialstandards, zur Übernahme von Angestellten oder zur Beschränkung der Ticketpreise, sind sie nicht gebunden. Die Folgen sind Sozialdumping, Massenentlassungen und eine Verschlechterung der Sicherheitsstandards. Doch trotz aller Möglichkeiten zur Tarifflucht und zur Preistreiberei ist abzusehen, dass der Personennahverkehr in den allermeisten Gemeinden ein Verlustgeschäft bleiben wird. Warum bewerben sich also überhaupt private Unternehmen darum?
Dies ist nur dadurch zu erklären, dass auch diese Unternehmen fest mit einer nachträglichen Bezuschussung rechnen. In den Chefetagen der Verkehrslobby wird davon ausgegangen, dass die Städte einen vollständigen oder teilweisen Zusammenbruch des Nahverkehrs nicht riskieren werden und früher oder später mit öffentlichen Mitteln zum gewünschten Profit verhelfen. Tatsächlich ist die Abhängigkeit der Städte von den Verkehrsunternehmen enorm. Die privaten Verkehrsunternehmer können außerdem den Preis für gemeinwirtschaftliche Aufgaben frei verhandeln: Welche Gemeinde kann es sich schon leisten, auf den Schülertransport mit Bussen zu verzichten? Welcher Gemeinderat würde zulassen, dass ein einzelnes Privatunternehmen frei über die verlangten Ticketpreise entscheidet? Die Unternehmen spekulieren darauf, dass die Kommunen bereit sein werden, einen hohen Preis für all die notwendigen Leistungen und Vereinbarungen zu zahlen.
Städte, Gemeinden und Kreise versuchen eigenwirtschaftliche Übernahmen durch verschiedene Maßnahmen zu verhindern. In Hildesheim stellte die kommunale „Stadtverkehr Hildesheim GmbH & Co.KG (SVHI)“ selbst einen Antrag auf eigenwirtschaftlichen Betrieb, um eine bevorstehende private Übernahme abzuwehren, was zu Gehaltskürzungen von rund 20 Prozent führte. Außerdem erhält die SVHI heute keine Fördermittel zur Anschaffung von umweltfreundlicheren Bussen mehr, da diese Mittel nach EU-Recht für gemeinwirtschaftlich tätige Verkehrsbetriebe vorgesehen sind. Eine andere potenzielle Abwehrmöglichkeit besteht darin, die Nahverkehrspläne möglichst komplex und unwirtschaftlich zu gestalten, um private Investoren abzuschrecken. Die Sicherheit dieser Methode wird sich erst noch zeigen, wenn Gerichte darüber entscheiden, ob die Festlegungen dieser Pläne zulässig und verbindlich sind.
Mehr Erfolg verspricht der Kampf um politische Lösungen. Die Gewerkschaft ver.di und auch der Deutsche Städtetag setzen sich für eine Änderung des Personenbeförderungsgesetzes ein. Die europäischen Gewerkschaften konnten bereits 2009 durchsetzen, dass in der EU-Verordnung, auf die sich das deutsche PbefG bezieht, ausdrücklich die Möglichkeit von öffentlichen Direktvergaben, sowie von bindenden Qualitäts- und Sozialstandards vorgesehen blieb. Doch diese Fortschritte fanden keinen Eingang in das deutsche Recht. Im März vergangenen Jahres verabschiedete der Bundesrat eine Initiative, die die Gestaltungsmöglichkeiten der Städte erhöhen und eigenwirtschaftliche Anträge überprüfbar machen sollte. Der Bundestag hat sich mit diesem Entwurf bis heute nicht befasst. Obwohl das neoliberale Dogma vom „Vorrang eigenwirtschaftlicher Verkehre“ auch trotz dieser Verbesserungen erhalten bliebe, spricht die Bundesregierung in ihrer Stellungnahme von einer „zentralen Weichenstellung“ und sieht „politischen Diskussionsbedarf“. Der Kampf von Gewerkschaften und Gemeinden wird also weiter andauern müssen.