Krisenbewältigung und Änderung der Spielregeln – Zum Hintergrund der US-Handelspolitik

Positiv waghalsig

Von Klaus Wagener

Das Kapital hat einen Horror vor Abwesenheit von Profit oder sehr kleinem Profit, wie die Natur vor der Leere. Mit entsprechendem Profit wird das Kapital kühn. 10 Prozent sicher, und man kann es überall anwenden; 20 Prozent, es wird lebhaft; 50 Prozent, positiv waghalsig; für 100 Prozent stampft es alle menschlichen Gesetze unter seinen Fuß; 300 Prozent, und es existiert kein Verbrechen, das es nicht riskiert, selbst auf die Gefahr des Galgens.“

Die von Karl Marx zitierte Charakterisierung des Kapitals aus dem „Quarterly Review“ gilt selbstverständlich auch heute. Mit dem feinen Unterschied, dass die „Gefahr des Galgens“ für heutige „Kapital-Verbrecher“, egal welches Gesetz sie gerade „unter ihren Fuß gestampft“ haben, doch deutlich gegen Null tendiert.

„Positiv waghalsig“ könnte man auch die Mission von US-Commodore Matthew Calbraith Perry nennen, der sich 1853 daran machte, Japan für den US-Markt zu öffnen. Bis dahin hatte sich das isolationistische Japan ausländischen Mächten strikt verweigert. Der mit vier dampfgetrieben Kriegsschiffen ausgerüstete Perry hatte den Auftrag, ein Angebot zu unterbreiten, das die Japaner, wie man so schön sagt, nicht würden ausschlagen können. Was sie, angesichts der ihnen unbekannten, Rauch und Dampf speienden Kriegsschiffe, dann auch nicht taten.

Perry war natürlich nicht der erste, der diese Art der Geschäftsanbahnung betrieb. Auch die britische East India Company, eine Ansammlung reicher, „positiv waghalsiger“ Handelskapitalisten, hatte sich bereits zu Anfang des 19. Jahrhunderts daran gemacht, das Handelsbilanzdefizit der Briten im Handel mit China in einen Überschuss zu verwandeln. Ein ähnliches Problem treibt ja gerade den US-Präsidenten um. Mit dem kleinen Unterschied, dass der US-Präsident seine Defizite preisgünstig mit grün bedrucktem Papier begleichen kann, während damals noch echtes Geld in Form von Sterlingsilber den Besitzer wechselte.

Da sich China betont desinteressiert an britischen Waren zeigte, versuchte es die Company mit einem alten Imperialistentrick. Sie exportierte Rauschgift. Mit Rauschgift, wahlweise auch mit dem Kampf gegen Rauschgift, hat man schon so manchen Gegner geknackt. Bis heute. Die East India Company stieg in den 1830er Jahren zum globalen Champion des Drogenhandels auf.

Als der Sonderkommissar des Kaisers, Lin Zexu, 1 400 Tonnen Opium hatte verbrennen lassen, war für Großdrogendealer Britannien der ersehnte Kriegsfall gegeben. In zwei Kriegen (1839–42 und 1856–60) unterwarf die Royal Navy die einstmals dominante asiatische Macht und machte sie zu einer De-facto-Kolonie der Europäer.

Freihandel und Protektionismus

Der internationale Handel hat nichts mit der von den Marktradikalen so gern herbeihalluzinierten Idylle eines mittelalterlichen Kartoffelmarktes zu tun. Handelskonditionen beeinflussen unmittelbar Profiterwartungen – sie entscheiden über Profite oder Pleiten, Siege oder Niederlagen. Handelskonditionen und natürlich auch Währungsfragen sind in einer imperialistisch strukturierten Welt Machtfragen und immer auch ein Kriegsgrund. Die weltumspannenden Monopole sehen ihre Staatsapparate als entscheidende Machtmittel, die ihnen den Zugang zu Märkten, Ressourcen und Verkehrswegen erschließen, Finanzierungsquellen und Währungskonditionen sichern, sie vor der Konkurrenz und einer unverschämten Arbeiterbewegung schützen. Letztlich sollen sie ihren Monopolprofit sichern. Der militärisch-geheimdienstlich-industrielle Komplex der USA unterhält mehr als 800 Stützpunkte, ein weltumspannendes Netz von Flugzeugträgergruppen, Bomberflotten, Atomraketen und Atom-U-Booten, seine Special Operations Forces operieren in 149 Staaten der Welt.

Freihandel und Protektionismus sind dabei nur zwei Propagandabegriffe, unter denen der Krieg geführt wird. Natürlich gibt es beides nicht wirklich, nicht in Reinform: Es gilt die Mischung durchzusetzen, die den dominierenden Profitinteressen des jeweiligen Landes am geeignetsten erscheint. Natürlich hat Trumps Zollpolitik ebenso wenig mit „freiem Wettbewerb“ zu tun wie sein immenser Druck auf die EU, statt billigen russischen Erdgases gefracktes, teures US-Flüssiggas zu importieren. Aber auch die EU-Vorkämpfer des freien Welthandels treten mit großer Selbstverständlichkeit hart protektionistisch auf, wenn sie, wie beispielsweise in der Landwirtschaft, bei chinesischen Stahlprodukten oder Solarpanels, nicht mit den Weltmarktpreisen mithalten können. Zölle, Einfuhrbeschränkungen, Zinsen, Währungsparitäten und andere Steuerungsinstrumente konnten – in vorimperialistischen Zeiten – die unterschiedlichen Fähigkeiten der Volkswirtschaften etwas ausgleichen. Wie die Ausplünderung der „Dritten Welt“ in Zeiten des neoliberalen „Washingtoner Consensus“ zeigt, ist dies in einer unipolaren Welt immer weniger der Fall.

Der äußere Kampf um die besten Handelskonditionen findet seine innere Entsprechung beim Kampf darum, wessen Profitinteressen Vorrang haben. Bislang hatten in den USA vor allem Wall Street, Rüstungsindustrie, Big Oil und Silicon Valley Vorrang. Das strategische Ziel des Neoliberalismus ist, dem dominanten Finanzkapital den Zugriff auf die globale Mehrwertproduktion möglichst weitreichend und mit einem möglichst hohen Profitanteil zu eröffnen.

Das Profitdiktat des Finanzkapitals bedeutet Privatisierung aller profitabel zu betreibenden staatlichen Betriebe und Institutionen, der Alterssicherung, der Gesundheits- und Bildungsindustrie, Senkung des Preises der Ware Arbeitskraft, also Auflösung oder Unterdrückung von Gewerkschaften und Kollektivverträgen. Es fordert Kapitalexport zu den Boomtowns der Welt, also Industrie und Arbeitsplätze dorthin zu verlagern, wo Arbeitskräfte billig, Umweltschutz und Sozialgesetze nicht vorhanden sind und Sicherheitsauflagen kleingeschrieben werden. Es ist die Inszenierung des nationalen, wie auch globalen sozialdarwinistischen Kampfes: Jeder gegen jeden.

Verlierer ist die Arbeiterklasse im weitesten Sinne und die nicht-weltmarktorientierte, regionale und nationale produzierende Industrie, eben alles, was nicht „Big Business“ heißt. Diese unterschiedlichen gesellschaftlichen Interessen generieren auch unterschiedliche handelspolitische Ziele. Der Klassiker: Im Britannien der nachnapoleonischen Ära gelang es dem landbesitzenden Adel (Gentry), sehr zum Ärger der „Manchesterliberalen“, hohe Zölle auf ausländisches Getreide durchzusetzen.

Nach 40 Jahren des großen „Enrichissez-vous“ (Bereichert euch!) der neoliberalen Gegenreform sind zwar aus Superreichen Megareiche geworden, der Staatsapparat des Imperiums, seine Infrastruktur, seine Schulen, seine Sozial-, Gesundheits- und Alterssicherungssysteme aber liegen darnieder. Das, was einmal die Vormachtstellung des Imperiums begründete, sein weltweit mit Abstand führendes industrielles Potential, ist, wenn nicht exportiert, zum großen Teil in einem miserablen Zustand. Die Gesellschaft ist wie in einer Hollywood-Dystopie gespalten in einerseits ausweglos-deprimierende Armut, begleitet von Gewalttätigkeit und Entzivilisierung, und andererseits obszönen Reichtum. Zur Bilanz gehören auch Zehntausende durch Schusswaffen Verletzte und Getötete jedes Jahr, mehr als 7,5 Mio. Menschen in den Fängen der Knastindustrie, 2,2 Mio. hinter Gittern, 4,5 Millionen unter Aufsicht (Haftaussetzung, Bewährung).

Der US-Außenhandel hat ein akkumuliertes Defizit in zweistelliger Billionenhöhe eingefahren. In immer mehr Sektoren musste die Technologieführerschaft an andere Staaten abgegeben werden. Aus dem weltgrößten Exporteur ist der weltgrößte Importeur geworden, der den Ramsch und die Statussymbole der globalen Boomtowns als Konsument der letzten Instanz aufkauft und sich dafür über beide Ohren verschuldet. Der Staat ist nicht zuletzt wegen seiner imperialen Kriege hoffnungslos verschuldet. Aus dem weltgrößten Gläubiger ist der weltgrößte Schuldner geworden, den nur noch die Macht des Dollar rettet.

Das Außergewöhnliche der gegenwärtigen Lage ist, dass die führende Weltmacht nicht mehr in der Lage ist, ihre strategischen Interessen mit der Parole „Freihandel“ durchzusetzen, sondern stattdessen zu Konzepten der Entwicklungsökonomie, zu Schutzzöllen und Einfuhrbeschränkungen Zuflucht suchen muss. Weit davon entfernt, die Ursachen im eigenen Handeln zu suchen, sah Trumps Wirtschaftsberater Peter Navarro schon 2007 „die Welt im chinesischen Würgegriff“ und forderte „in den künftigen Chinakriegen“ eine Art „Kampf um die Zukunft“ auf allen Ebenen. Genau damit hat Trump nun begonnen.

Neues Spiel infolge der Großen Krise

Die Große Krise konnte durch eine Aufblähung der Währungsbasis in zweistelliger Billionenhöhe zwar finanziell überkleistert werden, das „Quantitative Easing“ der Zentralbanken hat aber die Krisenursachen, im Kern eine Kapitalüberakkumulation, nicht beseitigt, sondern verstärkt. Das „Weltvermögen“ ist durch die Krise nicht gesunken, sondern laut Credit Suisse in den letzten 12 Monaten um 6,4 Prozent auf 280 Billionen Dollar angestiegen – in den USA auf 101 Bio. Dollar. Damit hinkt die magere Dynamik der realwirtschaftlichen Profitbasis der rasanten Kapitalentwicklung deutlich hinterher. Ein „Welt-BIP“ von rund 80 Bio. US-Dollar soll, neben den (Über-)Lebensinteressen von 7,6 Mrd. Menschen, auch die Renditeerwartung von 6,4 Prozent der Besitzer von 280 Bio. Dollar (immerhin 17,9 Bio. Dollar/Jahr) realisieren. Oder noch pointierter, die Erwartung, ein Minimum von 6,4 Bio. Dollar/Jahr Profit aus dem US-Vermögen von 101 Bio. Dollar zu schlagen. Dem stehen magere 20 Bio. Dollar US-BIP gegenüber.

Schon diese oberflächliche Betrachtung macht klar, warum die Krise natürlich nicht vorbei ist, und warum der Kampf um Märkte, Ressourcen, Einflussgebiete, kurz, um die globale Mehrwertproduktion nun offen ausgebrochen ist. Wie im Vietnamkrieg, als 1971 die Golddeckung des Dollar zur Disposition stand, so steht nun die Rolle des Dollar als Weltreservewährung selbst in Frage. Der Neoliberalismus und die geostrategische Überdehnung erodieren den Bestand des Imperiums stärker, als es die Sowjetunion je konnte. Trumps neuer Krieg ist allerdings nicht, wie der US-Präsident meint, einfach zu gewinnen, sondern wird selbst dann, wenn es gelingen sollte, das Militär weitgehend herauszuhalten, viele Opfer fordern. Opfer in den sich ausbreitenden Dürre- und Hungergebieten der Welt, den endlosen, schon jetzt rund 70 Millionen umfassenden Flüchtlingstrecks, aber auch in den Festungen Europa und USA selbst. Trumps Hoffnung auf Sieg ist nicht die Hoffnung auf das Ausbleiben eigener Verluste, sondern darauf, dass sie geringer sein werden als die des Gegners.

Als mit der Großen Krise die Party zu Ende ging, die spekulationsgetriebenen Blütenträume von Millionen zerplatzten und sie sich – statt in ihren schicken Häusern des Bushschen Immobilienbooms – auf der Straße wiederfanden, begann das demokratisch-republikanische „Establishment“ seine Massenbasis zu verlieren. Als dann unter Obama die Milliardäre gerettet, die Millionen in den Rustbelts und Ghettos im Elend blieben und eine Antwort der reformistischen Linken ausblieb, wuchs die satt gesponsorte, rechtsbornierte Gegenbewegung der Tea Party, Rednecks und der Globalisierungsverlierer, eben jene früher linke, breite Mehrheit, die ihre Löhne, Gehälter und Profite nicht aus dem Kapitalexport nach Fernost bezieht. Mit Trumps „America first!“ an die Macht gekommen, sucht dieses „andere Amerika“ offenkundig die Spielregeln zu seinen Gunsten zu verändern – so lange es noch geht.

Im Fadenkreuz: Die „Herausforderer“ Iran, Russland und vor allem China

Im Januar 2012 rief US-Außenministerin Hillary Clinton das „pazifische Jahrhundert“ der USA aus. Donald Trump konkretisierte diese Strategie vor dem APEC-Gipfel (Asiatisch-Pazifische Wirtschaftsgemeinschaft) in Da Nang 2017 in Richtung einer indo-pazifischen Region, zu deren Staaten man „bilaterale Handelsbeziehungen“ aufbauen wolle. Die Stoßrichtung dürfte klar sein: Es geht neben der Einbindung Indiens vor allem um die Eindämmung der VR China, die von US-Strategen als die Hauptgefahr für den Fortbestand des Imperiums angesehen wird. Trumps Handelspolitik hat neben der Stärkung der eigenen Position vor allem die Schwächung des Export-basierten Aufstiegs Chinas im Fokus.

Die Volksrepublik ist dabei, einen alten Alptraum der US-Geostrategen zu realisieren: Eine ökonomisch basierte Zusammenarbeit der Großmächte des eurasischen Raumes. Das gigantische Infrastrukturprojekt „Belt and Road“-Initiative (BRI, Neue Seidenstraße) ist gewissermaßen das Gegenprojekt zum US-Projekt „Greater Middle East“ – eines vom Imperium militärisch beherrschten Raumes von Nordafrika bis Pakistan. Der Gegensatz – Aufbau versus Zerstörung – könnte kaum größer sein, und während das US-Projekt nach einem Vierteljahrhundert als katastrophal gescheitert angesehen werden kann, hat BRI das Potential zu einem Jahrhundertprojekt für Asien, Europa und Afrika, bei dem die Energielieferanten Russland und Iran eine zentrale Rolle spielen. Die großartige Perspektive eines Kontinent-übergreifenden Handels, der neuen Häfen, Autobahnen, Kanäle und Eisenbahntrassen, lässt viele voller Hoffnung nach Peking blicken, um dabei zu sein. Dies zu sabotieren dürfte nicht einfach sein, aber das Imperium wird sich, wie immer „positiv waghalsig“, alle Mühe geben. Die US-Kriegsmaschine läuft wieder auf Hochtouren. Schutzzölle sind die harmlosere Variante.

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"Positiv waghalsig", UZ vom 10. August 2018



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