Schande? Gewiss. Aber was wird getan?
Am Eingang des Zentralfriedhofs in Berlin-Friedrichsfelde hängt ein Blatt. Es hängt am schmiedeeisernen Tor, das in den 1950er Jahren der Bildhauer Fritz Kühn (1910-1967) kunstgeschmiedet hatte. Kühn krönte auch den Glockenturm in Buchenwald, schuf das A-Portal an der Berliner Landesbibliothek und den Schwebenden Ring, den berühmten Brunnen auf dem Strausberger Platz, der zur Stunde restauriert wird. Das aber nur nebenbei. Auf dem Blatt bittet die Polizei um Mithilfe. Unter der Überschrift „Schwerer Diebstahl vom Städtischen Zentralfriedhof“ wird informiert, dass zwischen dem 7. und 10. März „von zehn Grabstätten aus dem inneren Rondell der Gedenkstätte der Sozialisten die Grabtafeln von bislang unbekannten Tätern entwendet“ worden sind. Geklaut wurden auch zwei Metallreliefs vom Grab des Schriftstellers F. C. Weißkopf und seiner Frau Grete, die Totenmaske in Bronze inklusive, sowie „ein gelber Minibagger einer Baufirma“. Wer Hinweise hat … bitte an …

Die Medien der Hauptstadt – natürlich nicht alle – meldeten am 11. März den Diebstahl der Grabplatten. Auch UZ informierte. Es gab Stimmen, die von Schändung sprachen und auch von Schande, weil nicht der für politische Straftaten verantwortliche Staatsschutz, sondern das für Kunstdelikte zuständige Fachkommissariat des Landeskriminalamtes die Ermittlungen aufgenommen hatte. (Ich finde einen solchen Empörungsruf putzig, wenn er von Personen kommt, die sonst den oft übergriffigen Staatsschutz attackieren, weil er doch auf dem rechten Auge blind und besonders hellsichtig auf dem linken ist. Hier plötzlich aber verlangt man seine aktive Mitwirkung.)
Vermutlich waren hier Buntmetalldiebe unterwegs, denen nichts heilig ist, weil sie unpolitisch sind und außer Geldgier sonst nichts im Hirn haben. Seit Wochen schon klauen sie von Berliner Friedhöfen und öffentlichen Plätzen Bronzeskulpturen. Selbst eine 100 Kilo schwere Kirchenglocke verschwand jüngst vom Städtischen Friedhof Heiligensee, und zur Jahreswende entwendeten sie die Büste Ernst Thälmanns, obgleich fest in einem Betonsockel verankert, von einem Privatgrundstück in Pankow. Methoden wie GPS-Tracker, DNA-Markierung oder Inventarnummern seien bei Buntmetalldiebstahl wenig wirkungsvoll, da die Skulpturen in der Regel sofort eingeschmolzen würden, sagen die Experten. Der beste Schutz sei die Aufstellung von Repliken, deren Anfertigung sei aber kostenintensiv.
Sollte man den Diebstahl aus der Gedenkstätte der Sozialisten also schulterzuckend hinnehmen, wie andere Plünderungen und Beutezüge auch? Sie damit entschuldigen, dass wir nun mal in einer kriminellen Ordnung leben und folgerichtig viele Mitglieder der Gesellschaft auch kriminell handeln? Wenn Politiker den Staat als Selbstbedienungsladen betrachten und sich die Lizenz zum Gelddrucken erteilen, muss man sich in der Tat nicht wundern, wenn kleine Ganoven, nicht minder rücksichtslos, sich ebenfalls an gesellschaftlichem Eigentum bereichern.
Der Diebstahl in der Gedenkstätte ist dennoch ein politischer Skandal, der nicht widerspruchslos hingenommen werden kann. Jede Bank, jeder Palast, jede Konzernzentrale, jede Institution des Staates, jeder NATO-Übungsplatz, jede Botschaft wird videoüberwacht. Manchmal stehen auch Uniformierte davor. Nun kann und muss man nicht vor jede Bronzeskulptur und jedes Grab einen Wachmann stellen. Aber auf Einrichtungen wie die Gedenkstätte der Sozialisten sollte die Obrigkeit, die sich qua Amtseid doch fürs Gemeinwohl verantwortlich fühlt, schon ein wachsames Auge werfen. Das fängt mit fest verschlossenen Toren an, und hört mit seriöser Videoüberwachung nicht auf. Ja, Datenschutz … Wer meint, die Gedenkstätte nur konspirativ besuchen zu können, um seine Gesinnung nicht zu verraten, muss sie dann eben meiden. Ein bisschen schwanger gibt es nicht. Entweder ganz oder gar nicht.

Am Donnerstag, den 20. März hat das Stadtteilkomitee Lichtenberg – junge Leute, vernetzt um den Kiezladen Café Wostok in der Lichtenberger Weitlingstraße – Ersatztafeln aus Kunststoff auf einige der geplünderten Gräber ausgelegt. Nicht mehr als eine rührende Geste. Aber immerhin! Und ganz im Sinne von Marx: „Jeder Schritt wirklicher Bewegung ist wichtiger als ein Dutzend Programme.“
Die Frage bleibt dennoch: Wie geht es nun weiter? Wer ersetzt die Tafeln? Wer kommt dafür auf?