Der kommunistische Strafverteidiger Friedrich Wolff im Gespräch mit Egon Krenz

Politische Justiz

Friedrich Wolff und Egon Krenz

Am 10. Juni starb der Rechtsanwalt und Kommunist Friedrich Wolff. Er wurde 1922 als Sohn eines jüdischen Arztes geboren, trat 1945 der KPD bei und konnte in der DDR Jura studieren. Er wurde einer der bekanntesten Juristen der DDR und verteidigte nach der Konterrevolution Erich Honecker, Hans Modrow und Hermann Axen. Aus Anlass seines Todes drucken wir hier – mit freundlicher Genehmigung des Verlags und redaktionell geringfügig überarbeitet – Auszüge aus einem 2022 unter dem Titel „Komm mir nicht mit Rechtsstaat“ veröffentlichten Gespräch mit Egon Krenz.

Egon Krenz: Irgendwo habe ich einmal gelesen, dass im Westen die Verfolgung von Nazi- und Kriegsverbrechen ab 1949 kontinuierlich sank, während in der gleichen Zeit die Verurteilung von Kommunisten zunahm.

Friedrich Wolff: Stimmt. Ich kann dir auch die Zahlen geben. Im Gründungsjahr der BRD wurden etwa 1.500 Nazis angeklagt, 1950 waren es etwas mehr als 900 – 1955 noch lediglich 21. Hingegen wurden 1953 in 1.357 Fällen Verstöße gegen die Paragrafen 49b, 90a, 128 und 129 des Strafgesetzbuches verfolgt.

Egon Krenz: Was heißt das?

Friedrich Wolff: Verunglimpfung des Staates und seiner Symbole, Bildung krimineller Vereinigungen und dergleichen. Alles noch gültige und angewandte Paragrafen aus dem Strafgesetzbuch von 1871. Der sogenannte Majestätsbeleidigungsparagraf – Paragraf 103 StGB – wurde erst 2018 gestrichen.

Egon Krenz: Ich erinnere mich: Das kam aufs Tapet, weil der türkische Präsident einen deutschen Satiriker wegen Beleidigung angezeigt hatte. Und plötzlich fand auch der Bundestag, dem doch so viele Juristen angehören, dass dieser Paragraf „für die Zukunft entbehrlich“ sei (Angela Merkel). Er wurde ersatzlos gestrichen.

Friedrich Wolff: Allerdings regte sich kaum einer darüber auf, dass im 21. Jahrhundert noch antiquierte Strafgesetze aus dem 19. Jahrhundert galten, sondern man erklärte, dieser Schritt habe das Strafgesetzbuch „verschlankt“ („Süddeutsche Zeitung“).

Egon Krenz: 1977 waren mit diesem Paragrafen in Nordrhein-Westfalen Demonstranten rechtskräftig verurteilt worden, weil sie vor der chilenischen Botschaft gegen das Pinochet-Regime mit Schildern protestiert hatten, auf denen „Mörderbande“ stand. Der Botschafter hatte sich beleidigt gefühlt … Höhepunkt der Verfolgungsmaßnahmen war das KPD-Verbot 1956. Fünf Jahre zuvor war bereits die FDJ verboten worden.

Friedrich Wolff: Alexander von Brünneck, ein Rechtswissenschaftler, hat an der Universität Frankfurt am Main zum Thema „Politische Justiz gegen Kommunisten in der Bundesrepublik Deutschland“ promoviert. Er stellte darin den Verfolgungseifer heraus. Es wurden damals schätzungsweise etwa 125.000 Bundesbürger kommunistischer Umtriebe bezichtigt und gegen sie ermittelt. Am Ende wurden 6.000 bis 7.000 verurteilt.

Egon Krenz: Man wollte damit die Bundesbürger einschüchtern, sich nicht mit den Linken einzulassen.

Friedrich Wolff: Von Brünneck nannte dieses deutliche Missverhältnis zwischen der Zahl der Ermittlungen, der Anklagen und der Verurteilungen ein „spezifisches Merkmal der Politischen Justiz gegen Kommunisten“.

Egon Krenz: Das wiederholte sich doch in den 1990er Jahren. Über 100.000 Ermittlungsverfahren gegen DDR-Bürger wurden eingeleitet.

Friedrich Wolff: Allein mehr als 50.000 gegen DDR-Juristen. Am Ende gab es aber weit weniger als 1.000 Verurteilungen. Die Intentionen waren die gleichen wie damals: Vergeltung und Rache, Einschüchterung, Demütigung und Ausgrenzung. In einem Beitrag zur „Politischen Justiz“ erklärte 1994 die spätere Präsidentin des Bundesverfassungsgerichts Jutta Limbach, von Brünneck habe in seiner Studie „über diese Episode bundesdeutscher Justiz“ festgestellt – und zwar „grob vereinfachend“ –, „dass sich das gesamte politische Strafrecht jener Zeit in einer einzigen Formel zusammenfassen ließ: ‚Wer sich als Kommunist betätigte, konnte bestraft werden‘.“

Egon Krenz: Das stimmt doch wohl.

Friedrich Wolff: Zum vollen Verständnis ist noch zu ergänzen, dass unter „Betätigung als Kommunist“ bereits das Tragen einer Mai-Nelke aus Ostberlin, eine Trauerrede am Grab eines Kommunisten oder die Organisierung von Ferien für westdeutsche Kinder in der DDR verstanden wurden. Limbach sprach in diesem Zusammenhang von „strafrechtlichen Exzessen“ und nannte dies eine „wenig rühmliche Epoche bundesdeutscher Justiz“.

Egon Krenz: Soll man nun sagen: immerhin? Oder sie selber zitieren: „Im Nachhinein ist man klüger“? Das hat doch weniger mit Klugheit zu tun als mit dem antikommunistischen Charakter dieser Gesellschaft. Den Antikommunismus nannte Thomas Mann schon 1943 die „Grundtorheit unserer Epoche“.

Friedrich Wolff: Ach, das sind doch keine dummen Leute, die wissen doch, was sie tun. Und sie sind doch mitunter durchaus auch ehrlich. Kannst du dich noch an Werner Maihofer erinnern?

Egon Krenz: Der war doch in den 1970er Jahren unter Helmut Schmidt Bundesinnenminister.

Friedrich Wolff: Genau. Er war auch ordentlicher Professor für Rechts- und Sozialphilosophie, Strafrecht und Strafprozessrecht an der Universität in Saarbrücken. Der meinte schon 1964, dass die Zahlen der Ermittlungsverfahren gegen Kommunisten „einem ausgewachsenen Polizeistaat alle Ehre machten“.

Egon Krenz: Ist dir jemals ein Fall zu Ohren gekommen, dass man die Opfer bedauert, sich bei ihnen entschuldigt oder ihnen gar eine Entschädigung für erlittenes Unrecht zugesprochen hätte – wie etwa den „Opfern des SED-Unrechtsregimes“?

Friedrich Wolff: Nein. Darum kämpft seit 1988 eine Initiative für die Rehabilitierung der Opfer des Kalten Krieges. Mein westdeutscher Kollege Heinrich Hannover, der seit Mitte der 1950er Jahre solche Menschen in juristischen Verfahren verteidigte, kam später da­rauf wiederholt zu sprechen. „Ich hatte Hoffnung auf Gerhard Schröder (SPD, von 1998 bis 2005 Bundeskanzler) gesetzt, der auch einige Erfahrungen als Strafverteidiger in politischen Prozessen gesammelt hat. Ich habe mit ihm auch gemeinsam verteidigt. Aber als ich ihn daran erinnert und um seine Initiative zur Rehabilitierung der auf westlicher Seite produzierten Justizopfer des Kalten Krieges gebeten habe, ließ er mir durch einen Ministerialbeamten mitteilen, dass bei uns alles rechtsstaatlich zugegangen sei.“

Egon Krenz: Von Heinrich Hannover kenne ich auch den ironischen Hinweis auf den Umgang mit den DDR-Funktionären, die vor bundesdeutsche Gerichte gezerrt wurden: „Aus der Sicht von Richtern, die westlichem Herrschaftsdenken verpflichtet sind, wäre von den Verantwortlichen der DDR natürlich zu erwarten gewesen, dass sie für einen schnelleren Zusammenbruch der DDR gesorgt hätten.“ Und da sie das nicht getan hatten, hatten sie in den Augen dieser Richter Schuld auf sich geladen. Ist das nicht absurd?

Friedrich Wolff: Inzwischen räumt selbst die Bundeszentrale für Politische Bildung ein, dass „mit dem sogenannten Adenauer-Erlass vom 19. September 1950“ die Strafverfolgung von Mitgliedern einer von der Bundesregierung als verfassungsfeindlich eingestuften Organisation vom Antikommunismus diktiert worden sei. Zwar habe sich dieser Erlass „sowohl gegen rechts- als auch gegen linksextreme Gruppen“ gerichtet, „Hauptziel des Erlasses waren jedoch kommunistische oder kommunistisch geprägte Vereinigungen“. Und nun zitiere ich eine ganze Passage, die bemerkenswert offen und zutreffend ist: „In ihrem politischen Kampf gegen den Kommunismus sowie dessen Unterstützer und Sympathisanten stützte sich die Bundesrepublik auch auf strafrechtliche Methoden. Sie reformierte ihr politisches Strafrecht und führte alte Straftatbestände aus der Weimarer Republik und der Zeit des Nationalsozialismus, die die Besatzungsmächte nach dem Zweiten Weltkrieg außer Kraft gesetzt hatten, wieder ein. Als wirksamstes Mittel im Kampf gegen den Kommunismus erschien die präventive Abwehr der kommunistischen Gefahr. Es wurde ein System aus Repression und Verfolgung geschaffen, das die lückenlose Unterdrückung jeglicher Form kommunistischer Betätigung ermöglichte.“

Das schreibt die Bundeszentrale für Politische Bildung, eine dem Innenministerium nachgeordnete Behörde.

Egon Krenz: Sie geben damit also zu, was sie in der Vergangenheit taten (und was wir schon damals benannt und entschieden bekämpft hatten) –, tun nun aber so, als habe dies nichts mit der Gegenwart zu tun. Als läge das alles lange hinter uns.

Friedrich Wolff: Alles, was damals die Politische Justiz der BRD gegen Kommunisten praktizierte, wiederholte sich nach 1990 bei der Verfolgung der DDR-Bürger. Es war, nach dem Radikalenerlass der Brandt-Regierung, die dritte Welle der Kommunistenverfolgung nach dem Krieg.

Egon Krenz: Wobei, das sollten wir nicht unerwähnt lassen, die DDR nur aus der Sicht des Westens ein „kommunistischer Staat“ war. Diese Etikettierung diente nicht nur der Diskreditierung einer politischen Weltanschauung, sondern eben auch der massiven Ablehnung des staatlich organisierten Gegenentwurfs zum eigenen System.

Friedrich Wolff: Diese Praxis hatte sich aber keineswegs erledigt, als wir untergingen. Im Gegenteil: Nun war alles möglich, da organisierte Gegenwehr nicht zu erwarten war.

Egon Krenz: Der NDR hatte in einem „Panorama“-Beitrag über einen „Mauerschützen-Fall“ aus dem Jahr 1987 kommentiert: „Hier hatte Lutz Schmidt gelebt, bevor er abgeknallt wurde wie ein Hase auf der Jagd.“

Friedrich Wolff: Schon 1976 hatte der ARD-Korrespondent Lothar Loewe in der „Tagesschau“ erklärt, an der Grenze werde „auf Menschen wie auf Hasen“ geschossen. Deshalb wies die DDR ihn aus. Die Anspielung war eindeutig.

Egon Krenz: Natürlich. Sie suggerierte, als hätten unsere Grenzsoldaten nur auf der Lauer gelegen und sich einen zynischen Spaß daraus gemacht, Leute abzuschießen. Ich will hier nicht wiederholen, was ich vor Gericht und auch an anderer Stelle wiederholt betont habe, dass unsere Grenzer gemäß dem geltenden Recht handelten und es keinen Schießbefehl gab, sondern eine Waffengebrauchsbestimmung wie auch in der Bundesrepublik.

Ich erinnere an die Toten an der deutsch-belgischen Grenze, die an der sogenannten „Aachener Kaffeefront“ von BRD-Zöllnern erschossen worden waren. Ich hatte mich im Juni 2009 beim NDR mit diesem Hinweis beschwert – erstaunlicherweise griff drei Monate später der „Spiegel“ eben dieses Thema auf. „Zwischen 1946 und 1952 seien 31 Schmuggler und zwei Zöllner erschossen worden“, hieß es dort. „Es habe zudem mehr als 100 Schwerverletzte auf beiden Seiten gegeben.“

Friedrich Wolff: 1961 hatte der Bundestag das „Gesetz über den unmittelbaren Zwang bei Ausübung öffentlicher Gewalt durch Vollzugsbeamte“ beschlossen. Dort war der Schusswaffengebrauch gegen Personen (Paragraf 11) und an der Grenze (Paragraf 12) geregelt. Das Grenzgesetz der DDR war nahezu identisch.

Egon Krenz: Der „Spiegel“ schrieb also im Frühherbst 2009: „So starb 1948 der 16-jährige Heinz Bertram an den Folgen eines Schulterschusses, der seine Schlagader anriss, 1951 wurde eine 36-jährige Frau erschossen – obwohl sie keine Schmuggelware bei sich hatte. Ein Jahr später tötete ein Zollbeamter einen 18-jährigen Pferdepfleger, der zwei Warnschüsse ignoriert hatte, mit einem Kopfschuss – bei sich trug er Schmuggelware im Wert von 60 Mark. Ein Gericht bescheinigte dem Todesschützen später, er habe ‚nach Dienstvorschrift‘ gehandelt.“ Keiner der westdeutschen Grenzbeamten ist wegen fahrlässiger oder gar vorsätzlicher Tötung angeklagt und verurteilt worden. Dem staatlichen Interesse der Bundesrepublik, die Grenzen zu kontrollieren und zu schützen und unerlaubte Grenzübertritte notfalls mit Waffengewalt zu verhindern, wurde Vorrang vor dem Lebensrecht des Einzelnen eingeräumt.

Nun sind wir uns einig, dass jeder Tote – egal, an welcher Grenze – ein Toter zu viel war und ist. Gleichwohl gilt der Grundsatz: gleiches Recht für alle.

Friedrich Wolff: Er sollte gelten. Was er nicht tut. Für die Grenzsoldaten der DDR galt dieser Grundsatz so wenig wie für dich. Deshalb haben sie dich ja auch zu sechseinhalb Jahren wegen angeblichen Totschlags in vier Fällen verurteilt. Das alles lag auf der Linie, die der seinerzeitige Bundesjustizminister Klaus Kinkel auf dem Deutschen Richtertag 1991 ausgegeben hatte: „Sie, meine Damen und Herren, haben als Richter und Staatsanwälte bei dem, was noch auf uns zukommt, eine ganz besondere Aufgabe.“ Der Rechtsstaat müsse sich als fähig erweisen, „mit dem fertig zu werden, was uns das 40-jährige Unrechtsregime in der früheren DDR hinterlassen hat“. Er baue auf die deutsche Justiz. „Es muss gelingen, das SED-System zu delegitimieren, das bis zum bitteren Ende seine Rechtfertigung aus antifaschistischer Gesinnung, angeblich höheren Werten und behaupteter absoluter Humanität hergeleitet hat.“

Und Kinkel war sich durchaus eines Problems bewusst, was er auch benannte: „In Ihre Rechtsprechung habe ich großes Vertrauen. Der Gesetzgeber kann aus rechtsstaatlichen Gründen wegen des Problems der Rückwirkung nicht tätig werden.“

Egon Krenz: Genau, das Rückwirkungsverbot. Das wurde mit Hilfe der Richter – auf deren Traditions- und Rechtsverständnis Kinkel und seine politische Klasse setzten – geschickt umschifft. Und wenn das Recht nicht passte, wurde es passend gemacht. Ach, das sind alles bittere Schlachten von gestern.

Friedrich Wolff: Sie werden irgendwann zur Sprache kommen …

Egon Krenz, Friedrich Wolff
Komm mir nicht mit Rechtsstaat. Friedrich Wolff und Egon Krenz im Gespräch
edition ost, Berlin 2022, 208 Seiten, 15,00 Euro
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"Politische Justiz", UZ vom 21. Juni 2024



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