So richtig glaubte dann auch die Staatsschutzkammer des Oberlandesgerichts Dresden nicht an die Gefährlichkeit von Lina E. Anders ist kaum zu erklären, dass die Aktivistin, von Medien und Politik über Monate hinweg als „Banden-Chefin“, „Extremistin“ und „Linksterroristin“ bezeichnet, das Gericht am Mittwoch als (vorerst) freie Frau verlassen durfte. Unter Auflagen soll sie nun auf ihren Haftantritt warten.
Das Urteil hat es in sich: Fünf Jahre und drei Monate soll Lina E. weggeschlossen werden. Die Verbrechen, die sie begangen haben soll, konnte ihr und ihren Mitangeklagten nicht zweifelsfrei nachgewiesen werden. Zweieinhalb Jahre, knapp die Hälfte des Gesamturteils, hat Lina bereits in Untersuchungshaft verbracht. Von dort wurde sie in das Gerichtsgebäude gebracht, wo sie sich anhören musste, wie Neonazis und ein unglaubwürdiger „Kronzeuge“ gegen sie aussagten und wie dünne Indizien („Eine Frauenstimme gehört“) gegen sie gewendet wurden. Daran, dass das Urteil schon vorher feststand, gab es unter Beobachtern kaum Zweifel. Die lange Untersuchungshaftzeit, die drakonische Strafe, die (Vor-)Verurteilung ohne schlüssige Beweise, die stundenlange Urteilsverlesung mit anschließender Freilassung: Das alles sollte auch entschlossenen Vertretern des bürgerlichen Rechtsstaates nur schwer zu vermitteln sein.
Deshalb – und weil mit dem Urteil nicht nur die Angeklagten, sondern die gesamte Linke getroffen werden sollte – musste der Kampf gegen die „Antifa-Ost“ auf anderen Ebenen fortgesetzt werden. Schon vor dem Tag der Urteilsverkündung wurden Randale und chaotische Zustände herbeigeredet. Mit einer Allgemeinverfügung untersagte die Stadt Leipzig spontane Versammlungen mit Bezug auf den Prozess, auch für das Wochenende. Diese massive Einschränkung der Versammlungsfreiheit begründete die Stadt unter anderem mit einem Foto auf einer Website, auf dem nach dem Wortlaut der Verfügung eine „mit Bannern und schwarzen Regenschirmen nahezu gänzlich verhüllte Personenansammlung, die in ihrer Ausgestaltung an die militärisch-taktische Schildkrötenformation des römischen Heeres erinnert“ zu sehen gewesen sein soll. Außerdem wurde in der Verfügung vor „Massenmilitanz“ und „klandestinen Überfällen durch konspirative Kleingruppen“ gewarnt.
Doch die von interessierter Seite erhofften Bürgerkriegszustände blieben aus. In mehreren Städten kam es zu Demonstrationen. Viel mehr als „polizeifeindliche Sprüche“, die übliche „Pyrotechnik“ und vereinzelte Auseinandersetzungen waren nach der vergangenen Nacht nicht vorzuweisen. In Hamburg, wo 2.000 Menschen demonstrierten, kam es zu Provokationen. Die Polizei sah sich aber dennoch gezwungen, von einem „überwiegend friedlichen“ Verlauf zu sprechen. Die gleiche Einschätzung kam aus Berlin. In Leipzig, wo von Barrikaden und Wurfgeschossen die Rede war, wurden in der Bilanz vier leichtverletzte Polizisten präsentiert. Wie es zu den Verletzungen kam, wurde nicht berichtet. Noch am Abend und in der Nacht mehrten sich auf Twitter jedoch Berichte von willkürlichen und provokanten Polizeiaktionen am Rande einer Versammlung. Viral ging ein Video, das Polizisten beim massenhaften Zerschlagen von Glasflaschen zeigt.
Der mediale Hype, die ständig wiederholten Warnungen vor „Linksextremismus“ – all das zeigt die politische Instrumentalisierung des Verfahrens über den Gerichtssaal hinaus. Mit dem Vorwurf der „Bildung einer kriminellen Vereinigung“, der keiner konkreten Beweise für eine Tatbeteiligung bedarf, schafft sich der bürgerliche Staat die „Straftäter“, die er dann vorführt, um politische Proteste zu unterdrücken, Grundrechte einzuschränken und den Generalverdacht gegen jede Opposition zu nähren. Die Causa „Antifa-Ost“ ist deshalb nicht nur ein Problem für autonome Aktivisten, sondern für alle, die Gefahr laufen, in Konflikt mit den Herrschenden zu geraten.