Dreadlocks und „Kulturelle Aneignung“

Politik per Gender, Sprache und Identität

Jürgen Lloyd

Im März wurde eine junge Musikerin von der Hannoveraner Ortsgruppe der Klimaschutzbewegung „Fridays for Future“ von einer Demonstration ausgeladen, auf der sie auftreten sollte. Am Beispiel dieses nicht unbedingt weltbewegenden Vorfalls wurde eine Diskussion bis in die bürgerlichen Medien getragen, die insbesondere unter jüngeren Aktiven fortschrittlicher Bewegungen schon seit geraumer Zeit zu Auseinandersetzungen führt. Sie ist Teil eines ganzen Komplexes ideologischer Debatten.

Im konkreten Fall war die Dreadlock-Frisur der Musikerin Anlass des Disputs. Die zusammengeflochtenen Haarstränge seien ein Ausdrucksmittel der US-amerikanischen Bürgerrechtsbewegung. Bedienten sich nun – wie die Musikerin – Menschen ohne eigene Unterdrückungserfahrung deren antirassistischer Ausdrucksmittel, handele es sich um einen Akt der „Kulturellen Aneignung“. Sie stellen sich – so die Kritik – damit in die Linie der Unterdrücker, welche auf Basis ihrer privilegierten Situation sich anmaßen, auch über die Kultur ihrer Opfer nach eigenem Belieben verfügen zu dürfen. Dies stehe der antikolonialistischen und antirassistischen Haltung der globalen Klima­streikbewegung entgegen, urteilte die Hannoveraner FFF-Gruppe: „Deshalb haben schwarze Widerstandssymbole (…) auf weißen Köpfen nicht zu suchen.“

Es gibt ein breites Feld weiterer Debatten, die vor einem verwandten theoretischen Hintergrund verlaufen: Was sagt es über den emanzipatorischen Anspruch eines sozialen Zentrums aus, wenn die dort tagenden Personen spätestens beim Toilettengang gezwungen werden, eine Zuordnung zu einem Geschlecht zu akzeptieren – auch wenn sie ihre eigene Identität als Mensch ohne eine solche Geschlechtszuordnung definieren? Welche Rolle spielt es, ob gesellschaftliche Ausgrenzung von Menschen ebenso in der Praxis unserer Sprache existiert? Ist eine Reform von Sprache und Schrift ein (notwendiger) Beitrag zur Änderung gesellschaftlicher Verhältnisse? Wie wichtig ist es also etwa, Menschen – sofern nicht ausschließlich männliche Exemplare gemeint sind – in der Sprache so zu repräsentieren, dass auch Frauen auftauchen? Was ist mit denen, die sich mit keiner Geschlechtszuordnung angesprochen fühlen und deshalb Gendersternchen einfordern? Welchen Unterschied macht es, ob die Vokabel „Neger“, „Schwarze“, „Afroamerikaner“ beziehungsweise „Afrodeutsche“, „Farbige“ oder „People of Color“ genutzt wird?

Nun mögen viele die Argumentation in der „Dreadlock-Debatte“ auf den ersten Blick als einigermaßen befremdlich betrachten – Dreadlocks seien doch eher als Sympathieerklärung mit den Unterdrückten zu verstehen. Würden nicht andere Fragen mehr Beachtung verdienen als die, welche Frisur eine Musikerin auf einer Demonstration tragen will? Doch gerade in der Leichtigkeit, mit der man sich von den – zumindest besonders grotesk anmutenden – Ergebnissen solcher Debatten abgrenzen kann, steckt ein Problem. Anstatt zu prüfen, ob hinter den oftmals bloß als ideologische Ablenkungsmanöver erscheinenden Formen ein Kern realer Bedürfnisse und Interessen stecken könnte, dient der Verweis auf die Form dazu, das ganze Thema vom Tisch zu wischen. Marxistinnen und Marxisten stehen demgegenüber in der Pflicht, ihre – sehr notwendige – Kritik an den skizzierten identitätspolitischen Ansätzen inhaltlich und unter Einbezug dieser Prüfung zu begründen. Ansonsten laufen sie Gefahr, nichts vorbringen zu können außer den vermeintlich „gesunden Menschenverstand“. Darauf sollten wir uns aber nicht einlassen, denn dieser ist lediglich als Türöffner rechter Demagogie zu gebrauchen.

Für den 11. Juni organisiert die Marx-Engels-Stiftung eine dem Thema „Identitätspolitik“ gewidmete Diskussionsveranstaltung, die sich um eine marxistische Kritik in „Auseinandersetzung mit einigen (post-)modernen Ansätzen“ bemüht. Helmut Dunkhase (Berlin) referiert zum Thema „Gender als Ideologie“, Kai Köhler (Berlin) spricht unter dem Titel „Bessere Wörter – bessere Welt?“ über das Verhältnis von Sprachpolitik, Denken und Praxis und Freya Pillardy (Kassel) behandelt die Frage „Wozu taugt Identitätspolitik? – Über Spaltungen, Ablenkungen und kämpferische Alternativen“.
Ort: Dortmund, Münsterstraße 56, Beginn: 11.00 Uhr
Weitere Informationen: www.marx-engels-­stiftung.de

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"Politik per Gender, Sprache und Identität", UZ vom 3. Juni 2022



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