Mit Pia Katharina B. hat sich am 14. Juni, dem 15. Verhandlungstag, nun auch die letzte der fünf im Falle des Polizeimords an Mouhamed Lamine Dramé Angeklagten im Prozess geäußert. Die 29-jährige Polizeibeamtin muss sich wegen gefährlicher Körperverletzung im Amt verantworten. Sie soll den 16-jährigen Geflüchteten mit einem „Distanzelektroimpulsgerät“, landläufig „Taser“ genannt, angegriffen haben, als der nach einem Angriff auf ihn mit Pfefferspray durch die ebenfalls angeklagte Jeannine Denise B. aus einer Mauernische in einem geschlossenen Innenhof auf die Polizisten zu ging.
Der Einsatz passierte am 8. August 2022 in einer Jugendhilfeeinrichtung in der Dortmunder Nordstadt. Der Strafprozess gegen fünf der zwölf daran beteiligten Polizisten läuft seit Ende Dezember am Landgericht Dortmund.
Pia Katharina B. schildert den Einsatz in groben Zügen, mit ruhiger Stimme. Ihre Schilderung deckt sich mit denen ihrer mitangeklagten Kollegen. „Abgesetzt“ vom eigentlichen Einsatzort habe man sich getroffen. Einsatzleiter Thorsten H. habe angeordnet, einer solle eine MP5 mitnehmen. Ihr Kollege Fabian S. habe direkt gesagt, er mache das. S. ist wegen Totschlags angeklagt.
Eine solche Maschinenpistole bereit zu halten, sei nicht unüblich, wenn ein „Messer im Spiel“ ist, sagt Pia B. Mouhamed Dramé hielt sich ein Küchenmesser an den Bauch, vermutlich in suizidaler Absicht.
Nach dem Einsatz des Pfeffersprays habe der Jugendliche zunächst gar nicht reagiert. Dann sei er „aufgestanden und auf uns zugelaufen“. Seine Körperhaltung sei „immer noch leicht gebückt“ gewesen. Das Messer habe sie nicht sehen können. „Mir war aber klar, dass er’s noch hat.“ Sie habe sich dann entschieden, den Taser einzusetzen. Beide Haken ihres Tasers hätten getroffen, erklärt B. auf Nachfrage des Vorsitzenden Richters Thomas Kelm. Fast zeitgleich seien dann Schüsse gefallen. Mouhamed Dramé sei praktisch direkt vor ihr zu Boden gegangen. Seine Schussverletzungen habe sie gesehen.
Pia B. bestätigt, sie habe gewusst, dass Dramé kein Deutsch sprach und tags zuvor in einer psychiatrischen Klinik vorstellig gewesen sei.
„Keiner von uns wollte Waffen einsetzen“, behauptet B. „Deshalb war es nachvollziehbar, dass H. Pfefferspray anordnet.“ Reizgas sieht sie nicht als Waffe. Der Einsatzleiter habe „nachvollziehbar begründet“, weshalb er den Einsatz von Pfefferspray statt eines Tasers angeordnet hatte. Auf Nachfrage von Staatsanwältin Gülkiz Yazir räumt Pia B. später ein, dass H. seine Wahl doch nicht begründet hatte.
Richter Kelm trägt aus Chatnachrichten der Angeklagten vor. Darin stellt Pia B. ihren Kollegen die Frage, ob man die Lage nicht statisch hätte halten können. Und ergänzt: Keiner mache sich Sorgen, dass die Rechtmäßigkeit des Einsatzes in Frage gestellt werden könne.
Diese Nachrichten habe man zeitnah nach dem Einsatz ausgetauscht, sagt B. Während des Einsatzes habe man solche Gedanken nicht gehabt, sondern dem Dienstgruppenleiter vertraut.
„Erst hat man uns gesagt, das wird schon alles gut, und plötzlich sitzt man hier vor Gericht“, sagt Pia B. trotzig. So deutlich hat noch keiner der Angeklagten den Eindruck in Worte gekleidet, den alle fünf vermitteln: Das eigene Handeln wird grundsätzlich nicht hinterfragt, und man ist überrascht, sich dafür vor Gericht verantworten zu müssen. Tatsächlich werden Polizisten in Deutschland kaum jemals für rechtswidrige Gewaltausübung im Amt angeklagt.
Aus den Chatnachrichten, die Kelm vorliest, geht hervor: Für sogenannten „Suicide by cop“, also einen bewussten Angriff auf Polizisten mit dem Ziel, von ihnen getötet zu werden, hält Pia B. Mouhamed Dramés Verhalten nicht. Rechte Medien hatten diese Vermutung in den Wochen nach dem Polizeimord verbreitet. Die Chatnachrichten zeigen auch, dass der Jugendliche auf B. jünger als 16 wirkte und die Polizisten „gefühlt“ gar nicht wahrgenommen habe.
Heute behauptet sie: „Er hat uns wahrgenommen, er wollte uns nicht wahrnehmen. Er wollte in seiner eigenen Welt bleiben.“ Belege dafür führt sie nicht an.
Rechtsanwältin Lisa Grüter fragt B., ob sie als Tutorin des Kommissaranwärters P. den Einsatz mit ihm taktisch nachbesprochen habe. Grüter vertritt die Nebenkläger, Mouhamed Dramés Brüder Sidy und Lassana. P. hatte am achten Prozesstag im Zeugenstand behauptet, mit seiner Tutorin nach dem tödlichen Einsatz nur darüber gesprochen zu haben, wie er sich fühle. Er hatte auffällige Erinnerungslücken gezeigt und behauptet, keine Absprachen getroffen zu haben. „Nee“, sagt Pia B. Sie will nur ihre „Hilfe“ angeboten haben.
Wäre eine Nachbesprechung des Einsatzes nicht ihre Aufgabe als Tutorin gewesen, fragt Grüter weiter. „Kommt darauf an, wie man die Aufgabe versteht“, weicht B. aus. Anwältin Grüter zählt Gründe auf, weshalb sich eine Besprechung aufdrängt. „Wir wollten die Waffen ja nicht einsetzen“, windet B. sich um eine Antwort herum. „Mouhamed Dramé war in dem Moment ja kein Angreifer für uns.“ Deshalb habe man die Regel, mindestens sieben Meter Abstand zu jemandem zu halten, der ein Messer hält, missachtet.
Lisa Grüters Fragen zeigen, dass Pia B. sehr wohl mit ihrem Auszubildenden P. über Aussageverhalten gesprochen hat. Grüter liest aus Chatprotokollen vor, aus denen hervorgeht, dass P. seine Tutorin fragte, ob er „mal irgendwo nicht drauf antworten“ solle. B. antwortete ihm, er solle „erst mal nicht begründen, warum wir was gemacht haben“. Das solle er Thorsten H. überlassen.
Den Tipp, „nicht zu sehr in sich reinschauen zu lassen“, bekomme man „grundsätzlich“, behauptet Pia B.
Rechtsanwältin Grüter liest eine weitere Chatnachricht vor, die Pia B. Thorsten H. schrieb: „Hi Thorsten, nur zur Info, falls du es nicht schon gehört hast: Lea und Luca sind jetzt auch vorgeladen.“ Lea und Luca haben als Auszubildende an dem tödlichen Polizeieinsatz teilgenommen. H.s Antwort: „Oh, das ist gegen die Absprachen. Ich bin gestern mit Luca noch gefahren und wir haben gesprochen. Braucht er noch Hilfe bei so einer Vernehmung?“
Dabei sei es um „Ausbildungsleitung“ gegangen, behauptet Pia Katharina B.
Lisa Grüter zitiert noch eine weitere Chatnachricht der Angeklagten. „Heute Abend um 21 Uhr kommt Herr S. bei uns vorbei. Ist eigentlich nicht ganz erlaubt. Er bewegt sich auf dünnem Eis.“ Herr S. ist „Leiter Gefahrenabwehr“ der Dortmunder Polizeiwache Nord.
In dem „informellen Gespräch“, behauptet Pia B., sei es S. darum gegangen, sie auf ihre Suspendierung am nächsten Tag vorzubereiten.
Dann fragt Anwältin Grüter die Angeklagte noch, ob sie eine Beziehung zu einem der prozessbeteiligten Kollegen gehabt habe. „Ja, zu Herrn S. F.“, räumt B. ein. S. F. war als Beamter in Zivil an dem tödlichen Einsatz beteiligt. Er hatte am sechsten Verhandlungstag auf mehrmalige Nachfrage der Staatsanwaltschaft behauptet, keine Beziehung mit einer der Angeklagten gehabt zu haben. „Ich weiß nicht, welche Rolle das hier spielt“, keift Pia B. „Ist ja nicht irrelevant, wenn Polizeizeugen lügen“, antwortet Lisa Grüter.
Lars Brögeler verzieht das Gesicht. Der Strafverteidiger von Jeannine Denise B. sitzt vor Pia B. Er hatte einer Mitarbeiterin der Jugendhilfeeinrichtung am 14. Prozesstag eine „intentionale Falschaussage“ unterstellt und dabei selbst einen laxen Umgang mit Fakten geübt.
Nach der Einlassung von Pia Katharina B. stehen noch zwei Zeugenaussagen auf der Tagesordnung an diesem 15. Verhandlungstag.
Frau R., 26 Jahre alt, ist Polizeibeamtin in der Wache Nord. Sie hatte in der Nacht vor dem tödlichen Einsatz Dienst, als Mouhamed Dramé dort vorstellig wurde und um Hilfe bat wegen suizidaler Gedanken. Frau R. bestätigt, dass der Jugendliche kein Deutsch verstand. Mouhamed sei ruhig gewesen. „Er wollte Hilfe und hat gewartet, sehr still und geduldig.“ Man habe den Jungen dann an eine Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie übergeben.
Der zweite Zeuge, der für heute geladen wurde, erscheint nicht. „Ja, warum der nicht da ist, weiß ich nicht“, sagt der Vorsitzende Richter Thomas Kelm. Dann nuschelt er noch unzufrieden vor sich hin über die Postlaufzeit im Haus.
Unsere bisherige Berichterstattung über den Prozess haben wir hier zusammengestellt.