„Über das Fleisch, das euch in der Küche fehlt, wird nicht in der Küche entschieden.“ Bertolt Brechts Spruch gilt auch für das so genannte Existenzminimum. Über dessen Höhe entscheidet Ende November der Bundestag. Für Alleinstehende soll es fünf Euro pro Monat mehr (409 Euro) und für Kinder zwischen sechs und dreizehn Jahren 21 Euro mehr geben (291 Euro). Was den größeren gegeben wird, wird den kleineren genommen. Für Kinder zwischen null und fünf Jahren soll sich nichts ändern, was wegen der Inflation aber zu einer Kürzung der Leistungen führt. Die Regelsätze steigen wesentlich langsamer als die Lebenshaltungskosten, wie die Koordinierungsstelle Gewerkschaftlicher Arbeitslosengruppen (KOS) ermittelt hat.
Ziel und Zweck „dieser systematischen und planmäßigen Unterfinanzierung ist, diese Menschen in den Niedriglohn zu treiben“, wie Harald Thomé von „Tacheles Wuppertal“ kritisiert. Eine gemeinsame Erklärung von DGB und zahlreichen Wohlfahrtsverbänden fordert deshalb, die Regelsätze neu zu berechnen und Soforthilfen zu gewähren. Sie fordern, dass die Berechnung nicht mehr an den untersten 15 Prozent der Haushalte in der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe vorgenommen wird, sondern wieder an den untersten 20 Prozent. Das Einkommen dieser ärmsten 15 Prozent liegt laut einer Berechnung der Sozialforscherin Irene Becker bei durchschnittlich 764 Euro im Monat. Von den Ausgaben dieser Haushalte werden weitere Posten abgezogen, zum Beispiel Mobiltelefone, Zimmerpflanzen, Malstifte, Taschen. Eine grundsätzliche Ablehnung der so genannten „Statistik-Methode“, einer Berechnung anhand der Ausgaben der Ärmsten (ohne Leistungsbezieher, Rentner und Studenten), findet aber nicht statt.
Das Bündnis fordert, dass Haushalte mit einem Einkommen unterhalb der Armutsgrenze, die aber keine Sozialleistungen beantragt haben, nicht mehr einfließen. Diese „verdeckte Armut“ wird von Irene Becker auf das Dreifache der erwerbstätigen Leistungsbezieher geschätzt. Im Juni 2016 waren 1,2 Millionen Hartz-IV-Bezieher erwerbstätig. Es könnte also um die drei Millionen Erwerbstätige geben, die eigentlich Anspruch auf ergänzende Leistungen haben, diese aber nicht beantragen.
Im aktuellen Regelsatz sind für Verkehr 25,44 Euro im Monat vorgesehen. Ein ermäßigtes Monatsticket kostet beispielsweise in Frankfurt/Main 62 Euro, in anderen Großstädten dürfte dies vergleichbar teuer sein. Für Strom sind 31,40 Euro vorgesehen, laut Paritätischem Wohlfahrtsverband geben im Bundesdurchschnitt Einpersonenhaushalte aber 42,74 Euro im Monat für Strom aus. Hinzu kommt, dass Leistungsbezieher häufig in schlecht isolierten Wohnungen leben müssen und auf zusätzliche Stromheizgeräte angewiesen sind. Der Verband hat errechnet, dass der Regelsatz auf 520 Euro angehoben werden müsste. In der Debatte ist auch, dass die Kosten für eine Brille und andere Gesundheitsleistungen wieder übernommen werden sollen. Das Bündnis fordert, dass die Leistungen für Schulbedarf erhöht werden, die mit 100 Euro im Jahr deutlich zu niedrig sind.
Auch wenn noch Änderungen am Gesetzentwurf vorgenommen werden, bleibt grundsätzlich das Problem der Berechnung. Der Paritätische Wohlfahrtsverband fordert zur Erhebung des Bedarfs von Kindern die Einsetzung einer Expertenkommission. In seinen Ausarbeitungen zur Frage des Kinder-Regelsatzes wies der Frankfurter Armutsforscher Rainer Roth darauf hin, dass die Senkung der Leistungen für Kinder seit 1990 stattfindet. Damals wurde die Statistik-Methode eingeführt und der Bedarf nicht mehr auf Grundlage des Warenkorbs erhoben. Dies führte sofort zu einer Senkung der Regelsätze von Kindern und Jugendlichen – mit einstimmiger Zustimmung auch der SPD-regierten Bundesländer. Die SPD versprach „bei künftigen Mehrheiten“ die Revision des Beschlusses vorzunehmen. Stattdessen wurde mehrmals eine Erhöhung des Regelsatzes verschleppt und mit Einführung von Hartz IV der Bedarf von Schulkindern bis 14 Jahre um 20 Prozent auf das Niveau des Bedarfs von Säuglingen gekürzt. Schulkinder verbrauchen aber zwei Drittel mehr Kalorien als Vorschulkinder und 14 bis 17-jährige verbrauchen mehr Kalorien als Erwachsene, weil sie wachsen und sich mehr bewegen. Hier Kürzungen vorzunehmen, führt sofort zu einer Notlage in den Familien. Die jetzt vorgenommene Erhöhung um 21 Euro für Schulkinder reicht nicht aus.
Begründung war und ist das so genannte „Lohnabstandsgebot“: Wer arbeite, müsse mehr haben, als der, der nicht arbeite. Die Arbeitgeber begrüßten die Kürzung, denn es bestehe „die Gefahr, dass bei Sozialhilfeempfängern die materiellen Anreize, eine Erwerbstätigkeit aufzunehmen, gegen Null gehen“. Kinderarmut zwingt zu Niedriglohn. Zugleich übt die Absenkung des Existenzminimums Druck auf die Löhne aus, die ja die Reproduktionskosten der Arbeitskraft abdecken sollen, also sich aus ähnlichen Faktoren zusammensetzen.