Die deutschen Medien sind sich von fast ganz links bis ganz rechts merkwürdig einig: Die spinnen, die Briten. Das „Brexit-Chaos“ jedenfalls, wie zum Beispiel „Die Welt“ es am 12. Dezember auf ihrer Titelseite nannte, scheint alle politischen Lager vom Rhein bis zur Oder im Kopfschütteln zu vereinen.
Die vom damaligen Premier David Cameron angeordnete Abstimmung des britischen Staatsvolks wird weithin als geistiger Ausraster, als Panne angesehen, durch welche die Industrie- und Finanzwelt der britischen Inseln gegen ihren Willen von einem dumpfbackigen Volk gezwungen worden sei, wider alle ökonomische Vernunft den gemeinsamen europäischen Markt zu verlassen. Die seitdem stattfindenden Manöver werden als ein wirrer Zickzack-Kurs dargestellt, dem keine innere Logik und schon gar kein vernünftiger Plan zugrunde liegt.
Was, wenn wir nur einen kleinen Moment zwei andere Grundannahmen tätigen, um das vermeintliche Durcheinander auf der britischen Insel zu erklären?
Die Grundannahme 1 lautet: Die – weit vor der US-amerikanischen und noch weiter vor der deutschen Bourgeoisie – erfahrenste herrschende Klasse dieser Welt, die zwei Weltkriege gewonnen hat, handelt nicht irrational, sondern rational.
Die Grundannahme 2 lautet: Die Abstimmung war keine Panne, sondern ein wichtiges Element eines Planes, dessen Kernpunkt die inzwischen verstorbene Margret Thatcher als ihre zentrale politische Leitlinie und Lebensweisheit einmal sinngemäß so zusammengefasst hat: Alle politischen Probleme kamen während meines Lebens immer vom Kontinent und alle Lösungen von der englischsprachigen Welt. Im Klartext: Wenn es kritisch wird, lös‘ dich von den Schwankenden zwischen Paris, Brüssel und Berlin und rück‘ fest an die Seite der Vereinigten Staaten von Amerika.
In der bemerkenswerten Brexit-Unterhausdebatte des britischen Parlaments hat der dortige Schatzkanzler Philip Hammond in seiner Rede mehrfach betont, der Austritt hätte ohne Zweifel ökonomische Kosten – aber der Wille des britischen Volkes sei nun einmal zu vollziehen.
Seine Rede sollten sich viele, die die Briten für irre halten, in Ruhe ansehen. Die Geschichte der Europäischen Union ist voll von Zurückweisungen von Plänen der jeweiligen nationalen Bourgeoisien durch die Völker – ob beim Beitritt zur EU oder zum Euro. Die Regel war nicht, dass das dann von den Herrschenden dieser Völker so akzeptiert wurde. Die Regel war, die Völker so lange zu kneten und abstimmen zu lassen, bis das Ergebnis stimmte. Warum machen sich die herrschenden Kreise der Insel, für die Hammond spricht, diese Regel nicht zu eigen? Könnte es sein, dass sie dieses Ergebnis gewollt haben – auch, weil es politisch die Möglichkeit weit öffnet, das Volk den Preis für den Ausstieg durch sinkenden Lebensstandard zahlen zu lassen?
Natürlich sind die Interessen der herrschenden Klasse in Großbritannien widersprüchlich – wie die jeder national herrschenden Klasse. Das ist eine Binsenwahrheit. Es wird unter Landwirten und Händlern bittere Verluste geben, wenn Großbritannien den gemeinsamen Markt verlässt. Aber Regierungen, das wissen wir seit Friedrich Engels, der seine britischen Oberen gut kannte, sind die geschäftsführenden Ausschüsse der gesamten herrschenden Klasse und repräsentieren den Willen nicht ihrer schwächeren, sondern ihrer stärksten Kräfte. Warum sollte das im heutigen Großbritannien anders sein?
Das alles zusammengenommen ergibt sich ein viel runderes Bild von den Ereignissen in London: Die herrschende Klasse in Großbritannien ist nach gründlicher Abwägung unterm Strich zu derselben Einschätzung der Weltlage gekommen wie die in den USA. Die lautet: So wie die Hauptaufgabe im letzten Jahrhundert die Beseitigung der Herausforderung Sowjetunion war – die nach langen heißen und kalten Kriegen von 1917 bis 1989 erledigt wurde – so ist die Hauptaufgabe im 21. Jahrhundert die Beseitigung der Herausforderung China. An der Seite Chinas steht der Verlierer des 20. Jahrhunderts, also Russland. Es zeichnet sich ein großer Konflikt zwischen den USA auf der einen Seite und China auf der anderen Seite ab, der mit der Waffe der ideologischen Kritik, mit Wirtschaftskrieg und, wenn es denn sein muss, mit der Kritik der Waffen ausgetragen werden wird. In der Mitte zwischen den Hauptblöcken China/Russland (die es nach Möglichkeit noch zu trennen gilt vor dem großen Showdown) und dem um die USA versammelten Staaten steht – wie so häufig in den letzten 200 Jahren – ein schwankendes Europa mit den immer nach Rapallo schielenden Deutschen als Hauptmacht und ihren schwächelnden Franzosen als Begleitpersonal.
In großen Kämpfen und Kriegen, die letztlich immer eine digitale Entscheidung für oder gegen erfordern, darf eine herrschende Klasse, die etwas auf sich hält, aber nicht auf die Schwankenden bauen, sondern auf die Festen. Also rückt die erfahrenste herrschende Klasse der kapitalistischen Welt fest an die Seite der stärksten – USA und UK bilden den Kern des aggressiven Hauptblocks der kommenden großen Konfrontation.
Von diesem Blickpunkt aus gibt es zwar – wie immer vor und im Krieg – Schwierigkeiten und Tränen, aber überhaupt keine inneren Widersprüche hinsichtlich dessen, was im Vereinigten Königreich zur Zeit passiert. „Be prepared for the big war – whatever the cost“ – das ist der bislang noch verborgene Kernsatz, der ein Schlüssel wäre, um die Briten nicht als Irre, sondern als folgerichtig Handelnde zu begreifen.