In Erinnerung an Alfred Kosing, Wissenschaftler für die Arbeiterklasse und die Jugend

Philosophischer Lehrmeister

Nur die Tageszeitung „junge Welt“ berichtete über seinen Tod. In den sechziger Jahren wurde er in der Nachfolge Ernst Blochs Direktor des Philosophischen Instituts der Karl-Marx-Universität in Leipzig sowie Dekan der Philosophischen Fakultät. Danach zwei weitere Jahrzehnte Professor an der Akademie für Gesellschaftswissenschaften in Berlin. Mitglied der Akademie der Wissenschaften der DDR seit 1969, von 1983 bis 1988 Vizepräsident der Fédération Internationale des Sociétés de Philosophie (FISP), Schweiz.

Der Philosoph Alfred Kosing starb am 21. Oktober in seiner Wahlheimat, dem türkischen Alanya. Die Ignoranz der bürgerlichen Presse gegenüber einem derartigen Wissenschaftler schmerzt, zeigt allerdings zugleich, dass sich Kosing treu geblieben ist.

Als Sohn eines Kleinbauern erlernte er nach der Befreiung vom Faschismus das Maurerhandwerk. Er nutzte die Chance, die die DDR ihm mit der Arbeiter-und-Bauern-Fakultät bot und konnte studieren. Er wurde Professor für Philosophie und ein wichtiger Lehrer der Arbeiterklasse, insbesondere der Arbeiterjugend. Wir dokumentieren deshalb hier Auszüge aus seinem zusammen mit Erich Hahn veröffentlichten Buch „Marxistisch-leninistische Philosophie, geschrieben für die Jugend“.

Die besondere Qualität des Bewusstseins und Denkens

Das Bewusstsein ist also die höchste Entwicklungsstufe des Psychischen. Die Entstehung des Psychischen und noch mehr des Bewusstseins ist ein qualitativer Sprung in der Entwicklung der Materie. Diese neue Qualität lässt sich nicht auf die materiellen neurophysiologischen Prozesse reduzieren. Zwar sind diese die materielle Basis für die Entstehung und das Funktionieren der Psyche, des Bewusstseins und des Denkens. Dazu bedarf es keiner übernatürlichen Kräfte, einer immateriellen Seele. Aber sie sind nicht einfach identisch miteinander, wie von manchen Naturwissenschaftlern angenommen wird. Der Vulgärmaterialist Karl Vogt (1817 bis 1895) behauptete zum Beispiel, die Gedanken stünden etwa in demselben Verhältnis zum Gehirn wie die Galle zur Leber oder der Urin zu den Nieren.

Gegen eine solche vereinfachende Auffassung schrieb schon Engels: „Wir werden sicher das Denken einmal experimentell auf molekulare und chemische Bewegungen im Gehirn ‚reduzieren‘; ist aber damit das Wesen des Denkens erschöpft?“ Damit unterstreicht Engels die neue Qualität des Bewusstseins, die zwar aus den materiellen Gehirnprozessen hervorgeht, aber nicht auf sie reduziert werden kann. Die wissenschaftliche Erklärung besteht nicht darin, den qualitativen Unterschied einzuebnen, sondern darin, die Bedingungen zu klären, die zur Entstehung der neuen Qualität führen.

Die wissenschaftliche Erklärung des Bewusstseins muss zeigen, dass die höhere Nerventätigkeit des Menschen die Bedingungen für das Zustandekommen der höheren Qualität enthält. Doch das Bewusstsein, die neue Qualität, geht über die Qualität der höheren Nerventätigkeit hinaus, enthält qualitativ neue Eigenschaften. Die wichtigste neue Qualität des Bewusstseins besteht in der Fähigkeit, die objektive Realität in ideellen Abbildern widerzuspiegeln. Diese Abbilder sind eine „Übersetzung“ des Materiellen in Ideelles. Das Bewusstsein entsteht als ein Produkt der materiellen höheren Nerventätigkeit des Menschen, es ist – wie die gesamte psychische Tätigkeit – in die neurophysiologischen Prozesse eingebettet und wird von diesen getragen. Warum kann man es dann selbst nicht als materiell bezeichnen?

Was sind die charakteristischen Merkmale des Bewusstseins, in denen seine neue Qualität zum Ausdruck kommt?
Das Bewusstsein ist das bewusst gewordene Sein. Es umfasst das Wissen der Menschen über die objektive Realität. Die Empfindungen, Wahrnehmungen und Vorstellungen, die sinnlich-konkrete Abbilder der objektiven Realität sind, gehören ebenso dazu wie das Gedächtnis, die Fähigkeit, sowohl sinnliche als auch abstrakte Abbilder zu speichern. Das Bewusstsein ist nicht nur Bewusstsein über die materielle Welt, sondern immer auch Selbstbewusstsein des Subjekts. Es unterscheidet das „Ich“ vom „Nicht-Ich“, das Subjekt vom Objekt.

Das Bewusstsein ermöglicht eine zielorientierte Tätigkeit des Menschen. Von Erkenntnissen über die Eigenschaften und Zusammenhänge der Gegenstände ausgehend, werden Ziele der Tätigkeit bestimmt, werden Antriebe zum Handeln (Motivationen) ausgearbeitet und Willensentscheidungen getroffen. Zugleich werden die Resultate der Tätigkeit kon­trolliert und nötigenfalls Korrekturen, Präzisierungen usw. der Ziele und der Handlungen vorgenommen. Das Bewusstsein ist darüber hinaus ein komplexes Verhältnis des Subjekts zu seiner Umwelt, ein Verhältnis, das sich in Gefühlen, in Einstellungen und im Verhalten zu Gegenständen, Prozessen, Menschen und gesellschaftlichen Verhältnissen äußert.

Was das Erkennen auszeichnet

Wodurch unterscheidet sich das Erkennen von anderen Widerspiegelungsformen?

Erkennen ist eine besondere Art der bewussten Widerspiegelung der objektiven Welt im gesellschaftlichen Bewusstsein, die sich durch charakteristische Merkmale auszeichnet. Worin bestehen sie? Erkennen ist theoretische Aneignung der objektiven Welt, das heißt eine Widerspiegelung, die sich auf die wesentlichen Eigenschaften, die allgemeinen Strukturen und die Gesetzmäßigkeiten der objektiven Welt richtet. Ihr Ziel ist, möglichst exakte gedankliche Abbilder dieser Eigenschaften, Strukturen und Gesetzmäßigkeiten zu gewinnen und diese in Form von Begriffen, Gesetzesaussagen, Formeln, Hypothesen, Theorien usw. zu einem gedanklichen Modell von Bereichen der Natur und Gesellschaft zu verarbeiten. Die adäquaten Abbilder von wesentlichen Eigenschaften, Strukturen und Gesetzmäßigkeiten der objektiven, die Erkenntnisse, dienen den Menschen als theoretische Grundlage ihrer zweckmäßigen Tätigkeit. Sie ermöglichen es ihnen, diese Eigenschaften, Strukturen und Gesetzmäßigkeiten zum Zweck der planmäßigen Veränderung und Beherrschung von Naturprozessen und Gesellschaftsprozessen praktisch auszunutzen und anzuwenden.

Andere Arten der bewussten Widerspiegelung der objektiven Welt unterscheiden sich vom Erkennen, obwohl auch in ihnen Erkenntnisse eine Rolle spielen. Die künstlerische Widerspiegelung zum Beispiel ist darauf gerichtet, gesetzmäßige Züge der Welt, insbesondere Vorgänge des gesellschaftlichen Lebens und menschliche Verhaltensweisen, in besonderen, beispielhaften, künstlerischen Bildern so darzustellen, dass darin eine bestimmte Einstellung, eine Haltung, eine Bewertung der dargestellten Vorgänge und Menschen zum Ausdruck kommt. Selbstverständlich spielen bei der künstlerischen Widerspiegelung die Individualität des Künstlers und seine Haltung und individuelle „Handschrift“ eine bedeutende Rolle. Natürlich enthalten Kunstwerke auch Erkenntnisse, und die Kunst hat durchaus auch eine erkenntnisvermittelnde Funktion. Doch ist sie eine spezifische Art der bewussten Widerspiegelung, die nicht mit dem Erkennen identifiziert werden kann.

Auch die Religion ist als gesellschaftliche Bewusstseinsform eine Widerspiegelung von Zusammenhängen der objektiven Welt, allerdings ist sie eine phantastisch-verkehrte Widerspiegelung. Auch wenn in ihnen mehr vom Himmel und von „überirdischen“ Wesen die Rede ist, haben alle Religionen einen sehr irdischen Inhalt. Denn was im religiösen Bewusstsein solche phantastische Gestalt annimmt, sind unbeherrschte Naturkräfte und gesellschaftliche Mächte, die über die Menschen walten. Mit Hilfe der Phantasie versuchen die Menschen, diese unerkannten Mächte zu beherrschen. Es ist klar, dass sich die religiöse Widerspiegelung der Welt prinzipiell von der theoretischen Widerspiegelung, vom Erkennen, unterscheidet. Und doch enthält auch die Religion gewisse Erkenntnisse, die in früheren Zeiten, als die wissenschaftliche Erkenntnis noch unterentwickelt war, eine nützliche Rolle spielten.

Wir sehen also, dass es verschiedene Arten der bewussten Widerspiegelung der objektiven Welt durch die Menschen gibt, die sich voneinander in mancher Hinsicht unterscheiden. Das Erkennen ist eine spezifische Art der Widerspiegelung. Diese ermöglicht es uns, solche ideellen Abbilder der objektiven Realität zu schaffen, die eine relativ genaue Wiedergabe der wesentlichen Eigenschaften, Strukturen und Gesetzmäßigkeiten von Bereichen der Natur und der Gesellschaft in Form von Begriffen, Aussagen und wissenschaftlichen Theorien sind.

Aus: „Marxistisch-leninistische Philosophie geschrieben für die Jugend“, Studienjahr der FDJ, Erich Hahn, Alfred Kosing

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"Philosophischer Lehrmeister", UZ vom 6. November 2020



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