Pflegemisere schnell beenden

Werner Sarbok im Gespräch mit Detlev Beyer-Peters.

UZ: In dem neuen Pflegestärkungsgesetz II ist vorgesehen, bis zum Jahr 2020 ein bundesweit geltendes Personalbemessungssystem zu entwickeln und zu erproben. Glaubst du, dass dieser Zeitrahmen einzuhalten ist?

Detlev Beyer-Peters, Fachkrankenpfleger für psychiatrische Pflege in einem Seniorenzentrum in Recklinghausen, Vorsitzender der Fachkommission Altenpflege im ver.di-Landesbezirk NRW und Kandidat der DKP zu den Landtagswahlen am 14. Mai 2017 in NRW.

Detlev Beyer-Peters, Fachkrankenpfleger für psychiatrische Pflege in einem Seniorenzentrum in Recklinghausen, Vorsitzender der Fachkommission Altenpflege im ver.di-Landesbezirk NRW und Kandidat der DKP zu den Landtagswahlen am 14. Mai 2017 in NRW.

Detlev Beyer-Peters: Ich glaube angesichts meiner schlechten Erfahrungen in Nordrhein-Westfalen nicht daran. So demonstrierten am 7. Juni 2002 in Düsseldorf über 3 000 Beschäftigte aus Pflegeeinrichtungen in NRW für mehr Personal. Auf der Kundgebung der Gewerkschaft ver.di versprach der damalige Arbeitsminister Harald Schartau (SPD), innerhalb von fünf Jahren ein Personalbemessungssystem für die stationären Pflegeeinrichtungen zu schaffen.

Bis heute, also 14 Jahre später, existieren in NRW weder allgemein verbindliche Personalrichtwerte noch irgendein Verfahren, mit dem die Bedarfe der BewohnerInnen in den stationären Altenpflegeeinrichtungen festgestellt werden, um darauf aufbauend ein Personalbemessungssystem zu entwickeln. Weil in jedem Bundesland völlig unterschiedliche Personalrichtwerte bestehen und nicht ein einziges Bundesland über ein Personalbemessungssystem verfügt, erweckt der Bund mit dem Pflegestärkungsgesetz den Eindruck, das Zepter des Handelns übernommen zu haben. Dabei hätte die Bundesregierung schon von Gesetzes wegen schon vor mehr als einem Jahrzehnt eingreifen müssen.

Damals wurde auf Bundesebene die Einführung des kanadischen Personalbemessungssystems „Plaisir“ abgelehnt, sicherlich auch, weil dabei festgestellt wurde, dass für eine 40-prozentige Personalsteigerung viel Geld hätte investiert werden müssen. Jetzt, nach so vielen Jahren, ein eigenes bundesweites Personalbemessungssystem entwickeln und erproben zu wollen ist das eine, ein solches System einzuführen das andere. Die Beschäftigten in den Altenpflegeheimen sind inzwischen mehr als frustriert, weil sie seit Einführung der Pflegeversicherung die Erfahrung gemacht haben, dass keine Regierung – weder in NRW noch im Bund – tatsächlich mehr Geld in die Hand nehmen will, um eine soziale Katastrophe in der Altenpflege zu verhindern.

UZ: Was fordert die Gewerkschaft, um der Entwicklung zu einer Pflegekatas­trophe zu begegnen?

Detlev Beyer-Peters: Die Entwicklung zu einer Pflegekatastrophe ist nicht nur damit verbunden, dass sich nicht genügend Menschen finden, die bereit sind, sich für die schwierige Tätigkeit in einem Altenpflegeheim ausbilden zu lassen. Und auch nicht damit, dass immer mehr Pflegeheime um Pflegefachkräfte kämpfen müssen, damit die gesetzliche Auflage erfüllt werden kann, wonach die Hälfte aller Pflegefachkräfte ein Examen in der Tasche haben müssen. Hauptursache ist, dass immer weniger Personal für immer weniger Geld immer pflegebedürftigere Menschen mit immer besserer Qualität versorgen soll. Ein magisches Viereck mit Hang zur Teufelsspirale, die alles nach unten zieht.

Die Gewerkschaft ver.di hat nach einer Befragung von Beschäftigten und betrieblichen Interessenvertretungen aus Pflegeheimen errechnet, dass in NRW 32 000 zusätzliche Pflegekräfte erforderlich sind, wenn dem gesetzlichen Anspruch an eine angemessene Pflegequalität Rechnung getragen werden soll. In immer mehr Heimen rutscht die vorherrschende Routine­pflege immer häufiger in eine gefährliche Pflege ab. Um den Teufelskreislauf endlich zu durchbrechen fordert die Gewerkschaft ver.di in NRW, dass die unverbindlichen personellen Orientierungswerte der Kostenträger (Pflegekassen und Sozialhilfeträger) vom Land NRW sofort als Mindestwerte festgelegt werden. Denn derzeit gibt es zahlreiche stationäre Pflegeeinrichtungen, in denen des Profites wegen selbst noch die niedrigen Orientierungswerte unterschritten werden.

Übrigens: Diese unverbindlichen Orientierungswerte basieren auf Personalrichtwerten von 1990. Von den Kosten- und Heimträgern fordert ver.di, endlich ihren gesetzlichen Auftrag zu erfüllen und verbindliche Personalrichtwerte zu vereinbaren. Hauptbremser zur Finanzierung von Personalverbesserungen sind die Sozialhilfeträger, die am Ende die Mehrkosten für zusätzliches Personal finanzieren müssen. Das Land NRW ziert sich, den Druck auf die Kommunen zu erhöhen, weil sie über das in der Landesverfassung festgelegte Konnexitätsprinzip befürchten, von den Kommunen finanziell in die Pflicht genommen zu werden. Dabei kann die stufenweise Erhöhung landesweiter Personalrichtwerte lediglich eine Übergangslösung auf dem Weg zu einem bundesweiten Personalbemessungssystem sein.

UZ: Welchen Personalschlüssel fordert ver.di? Heute werden ja von einer Pflegekraft um die 15 Bewohner versorgt. Was bedeutet die Erfüllung ihrer Vorstellungen an „Mehr an Personal“?

Detlev Beyer-Peters: Die Gewerkschaft ver.di hat seit Jahren als Ziel einen Personalrichtwert von einer Pflegekraft für zwei Bewohner und eine Verbesserung der Personalbesetzung in den anderen Tätigkeitsbereichen eines Altenpflegeheimes formuliert. Würden die ver.di-Forderungen verwirklicht, gäbe es bis zu 40 Prozent mehr Personal in den Altenpflegeheimen und bräuchte sich eine Pflegekraft nicht mehr um bis zu 15, sondern um höchstens zehn BewohnerInnen kümmern. Dadurch würden sich die Arbeitsbedingungen erheblich verbessern. Wenn dann noch Geld für eine bessere Bezahlung, mehr Aufstiegschancen, umfangreichere Fort- und Weiterbildung, und für eine erhebliche Verbesserung des Gesundheitsschutzes zur Verfügung stünde, wäre eine Ausbildung in der Altenpflege für junge Menschen sehr viel attraktiver.

UZ: Das Pflegestärkungsgesetz II soll nach Meinung des Bundesbeauftragten für die Pflege, Herrn Laumann, zu mehr Personal in den Altenpflegeheimen führen. Es war die Rede davon, dass etwa zwei Pflegekräfte pro Pflegeeinrichtung mehr dabei herauskommen könnten. Wie schätzt du die tatsächliche Wirkung des Pflegestärkungsgesetzes in den Heimen ein?

Detlev Beyer-Peters: Zwei Pflegekräfte pro Pflegeeinrichtung sind wie ein Tropfen auf dem heißen Stein. Nach Berechnungen der Gewerkschaft ver.di wird dieser Tropfen innerhalb kürzester Zeit nicht nur verdampft sein, sondern – wie schon bei der Einführung der Pflegeversicherung – erneut die Substanz des Steines angreifen. Denn spätestens 2018 wird das im Pflegestärkungsgesetz II geregelte Übergangsverfahren mit jedem Neueinzug und der damit verbundenen Graduierung zu Einnahmeverlusten und damit – wie eh und je – zu schleichendem Personalabbau beitragen. Umso wichtiger ist es, dass Heim- und Kostenträger im Rahmen des Überganges endlich verbindliche Personalrichtwerte vereinbaren, die kontinuierlich nach oben hin angepasst werden müssen.

UZ: Sind denn die notwendigen Maßnahmen überhaupt finanzierbar? Welche Vorschläge hat ver.di?

Detlev Beyer-Peters: Obwohl es in absehbarer Zeit kaum Zinsen bringen wird, liegt das Geld, mit dem die Bundesregierung sofortige Personalsteigerungen in den Altenpflegeheimen finanzieren könnte, derzeit auf der hohen Kante. Deshalb schlägt ver.di vor, den mit dem Pflegestärkungsgesetz I ab dem Jahr 2015 eingerichteten Pflegevorsorgefonds in einen Pflegepersonalfonds umzuwidmen. Mit jährlich ca. 1,2 Mrd. Euro ließen sich beim derzeitigen Gehaltsniveau pro Jahr ca. 38000 Stellen für Pflegekräfte finanzieren. Das würde bis zur Einführung eines Personalbemessungssystems durchschnittlich und ad hoc drei zusätzliche Pflegekräfte pro Pflegeheim bedeuten. Darüber hinaus soll die Finanzierung der Pflegeversicherung als Bürgerversicherung durch mehr Beitragszahler auf stärkere Beine gestellt werden und die Kosten der medizinischen Behandlung der BewohnerInnen eines Heimes wieder von der Krankenversicherung statt von der Pflegeversicherung getragen werden. Damit allein wird jedoch nach meiner Auffassung die Aufgabe zur sozialen Bewältigung von Pflegebedürftigkeit nicht gelöst. Hierzu sind sicherlich auch andere politische Mehrheiten notwendig.

UZ: Wie kann ver.di nach deiner Meinung diese Forderungen durchsetzen?

Detlev Beyer-Peters: Die Gewerkschaft ver.di kann ihre Forderungen nur durchsetzen, wenn sie ihre Mitgliederzahlen in den Altenpflegeheimen erheblich verbessert und die Beschäftigten darin bestärkt, selbstbewusst für bessere Arbeitsbedingungen einzutreten. Ohne wachsende öffentliche Aktivitäten der Gewerkschaft, ohne eine zunehmende Solidarität der Beschäftigten untereinander, ohne wachsenden Widerstand von Beschäftigten und ihren betrieblichen Interessensvertretungen wird sich auch im nächsten Jahrzehnt wenig verbessern.

Die Hoffnung allein, dass es die derzeit Herrschenden nicht auf einen Zusammenbruch des Versorgungssystems in den Altenpflegeheimen ankommen lassen, dürfte dafür nicht reichen.

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"Pflegemisere schnell beenden", UZ vom 25. November 2016



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