Zuweilen liegen nüchterne Erkenntnis und das mantrahafte Beschwören von Zuversicht nur wenige Millimeter nebeneinander. Bei der ersten 2021er-Ausgabe der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ (FAZ) waren es 18 Seiten Papier. Auf Seite 1 erhoffte sich das Blatt – immerhin mit einem Fragezeichen – ein „Jahr der großen Erholung“. Zwar sei die „Systemrivalität“ mit China inzwischen eine „Realität“. Aber mit dem neuen US-amerikanischen Präsidenten sei zu erwarten, „dass der Westen sich nicht weiter selbst verletzt und schwächt. Die westlichen Partner müssen wieder lernen, vom gleichen Blatt zu singen …“
Die weitaus nüchterner analysierende Wirtschaftsredaktion jedenfalls stellt in ihrem Leitkommentar auf Seite 19 gleich im Titel fest: „Europa in der Defensive“. Den Träumen vom gemeinsamen Singen setzt sie eine kühle Bestandsaufnahme entgegen: „Schon vor der Krise wuchs Europa merklich langsamer als Amerika und erst recht als die breite Riege südostasiatischer Länder, die sich kürzlich im größten Freihandelsabkommen der Welt zusammengeschlossen haben. Diese Wachstumsschwäche ist nicht aus der Welt … Corona hat die Verschiebung des weltwirtschaftlichen Gefüges beschleunigt. Was das konkret bedeutet …: etwa gleichbleibender Anteil Amerikas an der globalen Wirtschaftsleistung, anteilsmäßiger Zuwachs Chinas – und deutlicher Rückgang der EU.“ Die gleich zu Beginn des Jahres beschlossene Verlängerung des sogenannten Lockdowns in Deutschland und vielen anderen Ländern der durch den Austritt Großbritanniens zusätzlich geschwächten EU wird diese Kluft weiter vertiefen.
Dabei wird ein Faktor eine Rolle spielen, der schnell in Vergessenheit geraten könnte. Die nach dem kurzen, energischen Produktionsstopp in China und anderswo wieder anlaufende Wirtschaft trägt sich dort inzwischen selbst, ist also auf staatliche Stützungsmaßnahmen nicht angewiesen. Völlig anders ist die Lage hierzulande. Von dem Bundeshaushalt dieses Jahres im Umfang von einer halben Billion Euro sind 40 Prozent auf Pump finanziert. Der Haushalt selbst ist umkränzt von einer immer bunteren Mischung von „Sondervermögen“ und Kreditermächtigungen in dreistelliger Milliardenhöhe. Das Wegschlagen aller Bremsen für immer mehr ausufernde Projekte von „Öffentlich-Privaten Partnerschaften“ (ÖPP) bedeutet in seinem ökonomischen Kern ebenfalls das Eingehen von Zahlungsverpflichtungen für mehrere Jahrzehnte für Ausgaben innerhalb der unmittelbar nächsten Jahre – also eine Verschuldung, die nicht im Haupt-Haushaltsbuch auftaucht. Als Ausgleichszahlungen für gastronomische und andere Unternehmen, die vom Lockdown getroffen wurden, waren für die Monate November und Dezember jeweils 40 Milliarden Euro eingeplant. Die Verlängerung dieser Maßnahmen bis Ende Januar bedeutet mithin weitere 40 Milliarden.
Der Streit um die Festschreibung einer Nettokreditaufnahme in die Verfassung – also die sogenannte Schuldenbremse – ist das eine. Das andere ist: Auch der stärkste kapitalistische Staat gerät bei einer solchen Diskrepanz zwischen Ausgaben und Einnahmen relativ zügig an seine finanziellen Grenzen. Gewissermaßen im Vorgriff auf die sorgenvollen Jahresrück- und -ausblicke schwante daher der „FAZ“ bereits am 11. Dezember angesichts der Aufhäufung von Staatsschulden: „Tilgungen schmälern die Handlungsfreiheit nachfolgender Regierungen. Der Streit zwischen Bund und Ländern über die Corona-Rechnung deutet Bruchlinien an. Härtere Verteilungskämpfe dürften folgen …“
Es mag die Hoffnung geben, 2021 werde sich Europa mit ihrer Führungsmacht Deutschland wie ein Phönix aus der Asche des grausamen Jahres 2020 erheben, die Wirtschaft werde brummen, der neue amerikanische Präsident und der bald neu gewählte deutsche Kanzler würden Blutsbrüderschaft schließen und in Peking werde der Bannstrahl des strafenden Gottes der vereinigten Christenheit einschlagen. Realistisch ist das alles nicht. Realistisch ist, dass sich die Trends des letzten Jahres fortsetzen – und diese Einsicht dämmert mit Zähneknirschen auch denen, die auf ihren Titelseiten pfeifend durch den Blätterwald wandern.