Pfeifen im Wald

Georg Fülberth zum starken und schlanken Staat der Kanzlerin

Georg Fülberth ist emeritierter Professor für Politik und regelmäßiger Kolumnist der UZ

Georg Fülberth ist emeritierter Professor für Politik und regelmäßiger Kolumnist der UZ

Nach dem Anschlag auf den Weihnachtsmarkt an der Berliner Gedächtniskirche stellte die Kanzlerin ihrem Volk einen „starken Staat“ in Aussicht. In ihrer Neujahrsansprache hat sie das noch einmal wiederholt. Als Antwort auf den islamistischen Terrorismus sagte sie: „Unser Staat ist stärker. Unser Staat tut alles, um seinen Bürgern Sicherheit in Freiheit zu gewährleisten. Diese Arbeit ist nie beendet, und gerade in diesem Jahr haben wir den Sicherheitsbehörden viel neue Unterstützung gegeben. 2017 werden wir als Bundesregierung dort, wo politische oder gesetzliche Veränderungen nötig sind, schnellstens die notwendigen Maßnahmen in die Wege leiten und umsetzen.“ Sie meinte wohl noch mehr Videoüberwachung, raschere Abschiebungen, weitere Einschränkungen des Datenschutzes.

AfD, Pegida, „Reichsbürger“ und „Identitäre“ werden sich darüber schlapp lachen. Sie sind der Meinung, hier sollten nur Symptome kuriert, nicht aber die Ursachen beseitigt werden. Dies sei nur möglich durch Abschottung gegen Geflüchtete und gegen den angeblich parasitären europäischen Süden. Das sei nicht allein durch Verwaltungs- und Gesetzgebungsmaßnahmen zu erreichen, sondern durch Mobilisierung des so genannten Volkes, sein entschlossenes Treten nach unten und außen. Dies ist tatsächlich die Doktrin und Praxis bereits oder bald regierender Autokraten und Demagogen: Erdogan, Orbán, Trump und machtvoller nationalistischer Oppositionsbewegungen: Marine Le Pen.

Kritiker haben herausgefunden, dass das Programm der AfD neoliberal (gemeint ist marktradikal) ist. Dort werde nicht ein starker, sondern ein „schlanker“ Staat gefordert, der sich aus der Wirtschaft heraushalte und dem freien Spiel der Kräfte seinen Raum lässt. Das war auch die Agenda Angela Merkels 2003 auf dem Parteitag der CDU in Leipzig. In ihrer aktuellen Neujahrsansprache pries sie „unsere soziale Marktwirtschaft“. Damals gehörte sie zu denjenigen, die noch ein anderes Eigenschaftswort hinzufügten: „neue“ soziale Marktwirtschaft. Gemeint war die Entfesselung des Kampfes jeder gegen jeden. Die Ergebnisse können inzwischen besichtigt werden: wachsende soziale Ungleichheit, allerdings – so viel historische Gerechtigkeit muss sein – nicht erst seit Merkel, sondern schon seit Schröder, Fischer und Trittin. Wer dabei unten landet und keinen Weg sieht, sich gegen oben erfolgreich zu wehren, wird nationalistisch mobilisiert. Die AfD und die Kanzlerin haben annähernd dasselbe Wirtschaftsprogramm. Daraus entstand eine wohlstandschauvinistische Massenbewegung: Wer etwas hat, will es gegen Habenichtse verteidigen; wer nichts hat, will noch Schwächere – vor allem die Geflüchteten – von den spärlichen noch vorhandenen Sozialtransfers fernhalten.

Die Kanzlerin sagt: „Unsere Unternehmen stehen überwiegend gut da. Unser wirtschaftlicher Erfolg gibt uns die Möglichkeiten, unser Sozialsystem zu stärken und all denen zu helfen, die Hilfe brauchen. Ab morgen treten zum Beispiel wichtige Verbesserungen in der Pflege in Kraft.“ Sie vergaß zu erklären, weshalb Arbeitskräftemangel in der Pflege herrscht. Die Löhne für diese anstrengende Tätigkeit sind niedrig. Zur Zeit streiten Union und SPD darüber, ob das Rentenniveau im Jahr 2045 bei 43 oder 46 Prozent liegen soll. Wer monatlich 2000 Euro netto verdient, hätte dann – unrealistischerweise eine lückenlose Erwerbsbiografe vorausgesetzt – entweder 860 oder 920 Euro.

„Unsere Unternehmen“ liefern Waffen in alle Welt, konkurrieren die Industrien schwächerer Länder nieder oder verhindern, dass sie überhaupt entstehen. Die Kanzlerin erwähnt keinen Zusammenhang mit Armutsmigration und Terrorismus. Union, SPD, Grüne und FDP haben wirtschafts- und sozialpolitische Tatsachen geschaffen, die die AfD begrüßt, während sie deren Folgen zugleich demagogisch für ihre Zwecke nutzt.

Die Kanzlerin pfeift im Wald.

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"Pfeifen im Wald", UZ vom 6. Januar 2017



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