Zur künstlerischen Avantgarde hat die politische, d. h. also vor allem diejenigen, die in der Tradition von Marx, Engels usw. stehen und arbeiten, seit der Zeit der Weltwirtschaftskrise von 1929 usw. ein gelinde gesagt gebrochenes Verhältnis. Das war vorher anders, denken wir unter vielen z. B. an Brecht und Eisler, Majakowski und Schostakowitsch, den französischen Schriftsteller Louis Aragon und den russischen Futuristen Arthur Lurja/Lourié, Komponist und 1918 bis zu seiner Emigration 1922 sogar Musikbeauftragter im Volkskommissariat für Bildungswesen, und viele andere mehr. Es sollte, ja muss heute wieder anders werden. Und es kann anders werden.
Der Komponist und zugleich virtuose Pianist Stefan Litwin, Jahrgang 1960, greift mit seinem Musiktheater-Stück nach der gleichnamigen „Moritat“ von Peter Weiss (1916–1982) aus dem Jahr 1963 auf einen Text eines Vertreters einer musikalischen und politischen Avantgarde zurück. Weiss gehört zu der Generation, der als Komponisten vor allem Luigi Nono und Hans Werner Henze, Allan Petterson, Klaus Huber angehören sowie, etwas jünger, z. B. Armando Gentilucci (1939–1989) und Frederic Rzewski, Jg. 1938. Litwin, seit 1992 Professor für Interpretation, Klavier und Kammermusik an der Hochschule für Musik Saar, ist schon mit mehreren gesellschaftlich engagierten Werken hervorgetreten wie „Lyon 1943“ (Pièce de résistance), 1999–2000; Allende, 11. September 1973, 2004.
Die Titel sprechen für sich. Bei dem jetzigen Werk tut das der Titel nicht. Aber das Werk spricht für sich und vieles spricht für das Werk. Denn in dieser Schreckensnacht mit zwei ungebetenen, mörderischen Gästen verarbeitet Weiss Ängste aus der Zeit des Nazismus, die auch in der Gegenwart fortdauern. Litwin konkretisiert und präzisiert diese Bezüge und wendet sie direkter politisch: „Als Parabel für einen ungebändigten Raubkapitalismus scheint ‚Nacht mit Gästen‘ heute aktueller denn je.“ Das Theaterstück von Weiss wurde 1963 am Westberliner Schillertheater uraufgeführt und seither nur selten wieder aufgeführt.
Sechs Figuren genügen. Ein ungebetener Gast will, wie für Herrschaft allgemein üblich, Beute, hier bei den Armen, erfährt dann von einer ominösen Kiste mit Gold, nimmt die Frau und die beiden Kinder als Geiseln und zwingt den Mann, sie aus einem Versteck zu holen. Ein zwielichtiger Warner warnt vor Räubern und einer Gestalt, die draußen eine Kiste schleppe. Er bleibt dann selber als zweiter ungebetener Gast im Haus. Den mit der Kiste hereinkommenden Mann tötet er. Die Frau und der Gast. Die beiden kämpfen dann um die Kiste und bringen sich gegenseitig um. Am Schluss öffnen die überlebenden Kinder keine Schatz-Truhe mit Gold, sondern nur eine Kiste mit Rüben – aber die sind im Gegensatz zu Geld und Gold essbar und nützlich als Proviant auf dem Weg der nächsten Generation ins Ungewisse, aber gewiss Bessere.
Der frühe, sozusagen „vorsozialistische“ Weiss führt hier eine enttäuschte Hoffnung ein. Der Gast ist nicht der ersehnte Peter (!) Kruse, wie die beiden Kinder gemeint haben, und sie fragen etwas später leise: „Wo bleibt denn Peter Kruse/mit der roten Bluse/mit der Bluse feuerrot/hilft er den Armen aus der Not“, nachdem sich der Gast als Verbrecher entpuppt hat. Das ist ein diskreter Hinweis darauf, wo gerade in der wachsenden Gefahr das Rettende liegen könnte – es kommt aber nicht ohne eigenes Zutun.
Weiss wollte hier die Theaterform der Schaubude reaktivieren. Zu diesem Umfeld gehört auch das Kasperletheater, „die starken Effekte das Aggressive und Grauenhafte unter der scheinbaren Lustigkeit“. In Litwins Lesart gewinnt das Ganze neue Qualitäten, besonders indem die Partitur Weiss‘ Wunsch nach einer „durchgehenden Komposition“ erfüllt. Litwins sparsames achtköpfiges Instrumental-Ensemble besteht aus Flöte (auch Piccolo und Bassflöte), Klarinette (auch Es-Klarinette und Bass-Klarinette), Violine (auch Bratsche), Kontrabass, Gitarre (auch Banjo), Schlagzeug 1 und 2 sowie Klavier.
Litwin greift seinerseits zurück auf die Kunst-, Theater- und Musikkonzeptionen, die etwa in Brecht/Weills Dreigroschenoper (1928) oder Happy End (1929) oder Eislers Liederzyklus „Zeitungsausschnitte“ und vielen seiner Songs realisiert wurden: Er geht mit der Musik sparsam um. Fast könnten wir hier von einer „Zurücknahme“ sprechen. Eisler meinte damit einen zeitweiligen Verzicht auf eine besonders komplexe Musiksprache im Dienste einer möglichst allgemeinen Verständlichkeit. Bei Litwin dagegen zielt die Zurücknahme eher darauf, das musiktheatralische Geschehen möglichst deutlich und konturiert herauszumeißeln. Die Männer sprechen nur, Frau und Kinder singen zum Teil auch. Wesentlich ist, und das entspricht der Vorstellung von Weiss, dass dessen Knittelverse rhythmisch pointiert vorgetragen werden. Das profiliert Klang und Sinn.
Mit Ausnahme einer betont lyrischen Lamento-Arie der Frau, die von Klarinette und Bass-Flöte begleitet wird, bevorzugt Litwin meist scharfe, kantige, harte, auch grelle Klänge und macht so das Ganze besonders eindringlich. Schon der Anfang mit wenigen, an Beethovens „Coriolan“-Ouvertüre angelehnten düsteren Klangschlägen vergegenwärtigt das Unheimliche, durchaus in der illustrativen Art guter Opern- oder Film-Musik. Im traditionellen Sinn schöne Melodien, gar solche zum späteren Mitsingen, gibt es im Unterschied zu Weill oder Eisler kaum, aber doch viele prägnante, charakteristische. Anklänge an Jazz, an Ländler oder Tango und zahlreiche mehr oder weniger verdeckte Zitate von Schubert, Chopin, Brahms, Wagner, Mahler und Eisler vermitteln und konkretisieren zusätzlich. Das alte Kinderlied „Es geht ein Bi-Ba-Butzemann in unserm Haus herum …“ ist eines der zahlreichen, Wagners Verfahren parodierenden Leitmotive, die hier die Atmosphäre des Bedrohlichen vermitteln.
Wie die Musik vorwiegend antipsychologisierend ist, so sind die stimmige, überzeugende Bühneneinrichtung und szenische Aktion betont antinaturalistisch und dadurch dramatischen Vorgängen wie Text gemäß. Nicht zuletzt die zweidimensionalen Requisiten zeigen das Gedrückte geradezu geometrisch-symbolisch (Bühnenbild und Kostüme: Annette Wolf). Schminkmasken erinnern an das japanische Kabuki-Theater, sind aber etwas flexibler. Ergänzend zum schwierigen rhythmischen Sprechen sind die bemerkenswert ausgefeilten, geradezu choreographierten und ebenfalls rhythmisierten Gesten (Regie: Frank Wörner, Gesangsprofessor an der Hochschule für Musik Saar). Eva Behr sorgte als Dramaturgin für die Infrastruktur während des langwierigen Vorbereitungsprozesses und für ein gehaltvolles Programmheft. Das Instrumental- wie das Gesangsensemble bestand vollständig aus Studierenden der Hochschule für Musik Saar. Alle brachten ausgezeichnete Leistungen. Zusätzlichen Glanz erhielt die Uraufführung dadurch, dass Peter Weiss‘ Witwe Gunilla Palmstierna-Weiss sowohl bei einer Einführungsdiskussion als auch bei einem Gespräch in einer Buchhandlung am nächsten Tag einiges aus persönlicher und schwedischer Perspektive ergänzte.
G. Palmstierna-Weiss selbst war Szenographin bei vielen Aufführungen von Weiss-Stücken. Im Vorfeld verwies sie gegenüber Litwin auf eine weitere Aktualität des Stücks: heute sind etwa 40 Millionen Kinder auf der Flucht vor Krieg und Hunger.
Es steht bereits jetzt fest, dass Litwin/Weiss‘ Werk an einigen Schulen im regionalen Umfeld aufgeführt werden wird. Ein kleiner Sieg der progressiven politischen Sinnlichkeit und Vernunft: Einmal mindestens begegnen dann Jugendliche einer anspruchsvollen Musik, wie sie sie sonst in der Regel eher selten zu hören bekommen. Die spannende, aktionsreiche Handlung oder das rhythmisierte Sprechen als Analogie zum Rap mögen Brücken zwischen den verschiedenen Welten schlagen. Passend zur Nacht mit den mörderischen Gästen ist das keine gemütliche, angenehme Musik, gar eine des Typs „Meditation“ oder „Wellness“. Dafür regt sie auf und an: durchaus Gefühle, aber zugleich Mit- und Nach-Denken.