67 Prozent der Bürger in Deutschland vertrauen politischen Parteien „eher nicht“, stellte eine Umfrage des Eurobarometers der Europäischen Kommission im Frühjahr vergangenen Jahres fest. Diejenigen Politiker, denen Bürger nicht mehr vertrauen, behaupten gerne, man habe die eigene Politik „nicht gut genug kommuniziert“. Sind die Wähler also zu dumm, wie derlei Aussagen insinuieren – oder fußt ihr Misstrauen in ihrer Lebenswirklichkeit? Dieser Frage widmete sich Manfred Sohn auf Einladung der NaturFreunde Stuttgart Sillebuch-Ostfildern am vergangenen Freitag im Clara-Zetkin-Haus. Sohn ist Vorsitzender der Marx-Engels-Stiftung, Autor und UZ-Autor.
Eingangs zeichnete Sohn die aktuelle politische Situation nach: Die neue US-Regierung mit 13 Milliardären, der Bruch der Ampel-Koalition, der Bundestagswahlkampf mit Schmusekurs der Unionsparteien mit der AfD. Das Scheitern des von der CDU eingebrachten „Zustrombegrenzungsgesetzes“ im Bundestag zeige Widersprüche in der Bourgeoisie auf – doch die „Kernfrage ist nicht die Migration, sondern die Kriegsfrage“, analysierte Sohn. Die Ampel-Koalition sei gescheitert, weil sie den Übergang vom Neoliberalismus zur Kriegswirtschaft nicht gemeistert habe.
Sohns zweite These: die „pervertierte Rebellion“. Die Rebellion gegen das Kapital bleibe aus, weil die linken Kräfte zu schwach seien. Der Verdruss der Arbeiterklasse über die Politik der Herrschenden wachse, und die Lust zur Rebellion nehme ebenfalls zu – aber sie gehe in die falsche Richtung und stärke die rechtesten Kräfte. Das bedeute: Die pervertierte Rebellion gedeihe. Dagegen gelte es, Widerstand aufzubauen. Mit SPD und Grünen könne das nicht gelingen. Not tue die Entfaltung der wirklichen Rebellion gegen Kapital und Imperialismus.
Der Parlamentarismus erschöpfe sich historisch immer mehr, war Sohns dritte These. Das zeige sich etwa daran, dass die Mehrheit der Bevölkerung keinen Krieg wolle, die Regierung ihn aber trotzdem vorbereite. Nach der Bundestagswahl werde sich dieser Kurs weiter verstärken. Friedrich Merz (CDU) werde mit wechselnden Mehrheiten regieren. Regierungen verselbständigten sich weiter und koppelten sich zunehmend von den Parlamenten ab. Das sei heute schon in den USA zu beobachten. Da dem Kapital zunehmend politisches Personal fehle, steige es selbst in den Ring. Wird Merz, ehemaliger Aufsichtsrat-Vorsitzender bei BlackRock Deutschland, der neue BlackRock-Kanzler? „Wenn das Monopolkapital sich selbst ans Steuer der Staatsmaschine setzt, wird das politische Fahren zu einem Fahren ohne Stoßdämpfer,“ so Sohn. Das System werde dadurch anfälliger.
Der Charakter unserer Epoche sei gekennzeichnet durch die Instabilität in den Zentren der Industrieländer. War Instabilität lange ein Charakteristikum der Peripherie, komme sie nun in die Zentren. Die Extraprofite aus den (Ex-)Kolonien sänken und fehlten in den Zentren zur Korrumpierung der Arbeiterklasse. Die Produktivkräfte seien gefesselt, Wachstum bleibe aus. Das Wachstum und bedeutende technologische Entwicklungen fänden in der Peripherie statt, beispielsweise in China. Mit Sanktionen versuche der Westen, das zu sabotieren. Es komme zu Umwälzungen im Überbau. Regierungsbildungen dauerten oft sehr lange, und Regierungen würden instabiler. Wir seien in der Epoche des Übergangs vom Kapitalismus zum Sozialismus angekommen, stellte Sohn fest.
Seine letzte These: Die Kräfte des Friedens würden, global gesehen, stärker, der Imperialismus schwächer. Das Staatenbündnis BRICS wachse beständig. „Wir müssen nicht an der Seite der NATO und der USA krepieren.“ Linke Politik heiße: Raus aus der NATO, weg vom US-Imperialismus, Friedenskräfte stärken.