Ein Diskussionsbeitrag von Wolfgang Jantzen

Persönlichkeit – Demokratie – Vernunft

Der vorliegende Beitrag ist ein Transkript eines Vortrags Jantzens bei der DKP-Hochschulgruppe in Göttingen am 26. 6. 1989. Es spiegelt den Höhepunkt der Auseinandersetzungen innerhalb der DKP mit den „Erneuerern“ wider, zu denen auch Jantzen gehörte. Er wendet sich gegen den „Stalinismus“ in der Kommunistischen Bewegung und orientiert sich an den Aussagen Gorba­tschows. Seine Einschätzungen der ideologischen, vor allem philosophischen Probleme des Marxismus-Leninismus ähneln denen von Hans Heinz Holz. Ihre historische Einschätzung der Rolle Stalins sowie die politischen Konsequenzen stehen sich entgegen. Jantzen verlässt Anfang der 1990 Jahre die DKP, Holz tritt ihr wenig später bei.

Der Text wurde 2016 für die Veröffentlichung im Buch „Grenzerfahrungen – Gastprofessor in Leipzig/DDR“, erschienen im Neue Impulse Verlag, leicht überarbeitet.

Die klassische Philosophie zerfällt in zwei Lager. Einerseits in ein monistisches Lager und andererseits in ein dualistisches Lager. Die monistische Philosophie hat versucht, die Einheit und Verschiedenheit der Welt einheitlich in ihrer Verschiedenheit zu denken; die dualistische Philosophie des Descartes und seiner Nachfolger hat von Anfang an aufgeteilt: Subjekt und Objekt der Erkenntnis. Einerseits die erkennende Substanz – Ich denke, also bin ich –, die letztlich nur im Inneren erfahrbar war, andererseits die ausgedehnte Substanz in der Außenwelt, die mit Mitteln der Ratio, des Verstandes, bearbeitbar war. (…) Dieser Dualismus wirkt sich so aus, dass letztlich zwei Arten von Wissenschaften entstehen. Die zergliedernde analytische Wissenschaft, die zu diesem Zeitpunkt extrem fortschrittlich ist, denn sie bewirkt überhaupt erst die naturwissenschaftliche Erkenntnis der Welt, aber sie bewirkt auch die Entbindung dieser naturwissenschaftlichen Erkenntnis von der sozialen Verantwortung der Wissenschaftler, schon bei Descartes selber. Und andererseits in der Selbstreflektion dann letztlich die verstehende Wissenschaft. Letztlich kulminierend in der Lebensphilosophie, die das Erleben höher als den Prozess der Vernunft stellt. Lukács hat dies als „Zerstörung der Vernunft“ beschrieben, als die Mythosbildung, als den Appell an Irrationales, die sich in dieser Weise dann als Vorläufer des Faschismus erwies.

Alle die Autoren, die ich eben genannt habe, haben anders gedacht. Ob das Spinoza ist, ob das Marx ist, ob das Wygotskij ist, im übrigen aber auch Sigmund Freud. Sie haben sich jeweils bemüht um eine Synthese der emotionalen und kognitiven Seiten des Prozesses, also mit der auf die äußere Welt gerichteten Perspektive, auf die ausgedehnte Substanz gerichteten Perspektive und der auf die Innenwelt, die erkennende Substanz, gerichteten Perspektive. Und alle diese Autoren, übrigens dann auch Gramsci oder Lukács, sind zu gleichen Lösungen des Vernunftproblems gekommen, dass nämlich Vernunft (…) eine ständig neue Synthese ist, die errungen werden muss, die nicht gegeben ist, eine Synthese zwischen Verstand und Emotionen, zwischen Verstand und Leidenschaften, und dass die Aufhebung der Leidenschaften auf höherem Niveau, also im Prozess der Vernunftbildung, immer auch affektive Anteile hat. (…)

Gramsci stellt erstmalig die Frage: Was sind denn die Bedingungen, die Vernunftwerdung beinhalten, und was hat das mit der Partei zu tun? Bedingungen, die Vernunftwerdung beinhalten, sind erstens: Wissen, und zwar nicht enzyklopädisches Wissen, nicht Anhäufen von Stoff (…) Wissen erwirbt man in dem geistigen Nachvollziehen der großen Schöpfungen der Wissenschaftler, der großen Entdeckungen, also der Dialektik des Entdeckungsprozesses. Aber zugleich gehört Humanität dazu, Katharsis nennt das Gramsci, Veredelung der Gefühle. Diese beiden Momente sind dann bei ihm die politische wie moralische Seite der Tätigkeit der Menschen und der Partei. Die Partei als moderner Principe, als moderner Fürst – diesen Ausdruck übernimmt er von Machiavelli – hat gerade für die Einheit dieser politischen und moralischen Seite zu sorgen. Sie hat im Leben der Menschen – so sagt er – den Platz des kategorischen Imperativs einzunehmen und damit an die Stelle Gottes zu treten. Nicht eines jenseitigen Gottes oder eines diesseitig über Parteilichkeit, im falschen Sinne, abgeforderten, sondern durch ihre realen praktischen Taten. Ihre Avantgardefunktion muss konkret auch im Moralischen immer wieder neu hergestellt werden – so Gorbatschow. Und Gramsci sagt hierzu, dass bei der Analyse der Partei dies die beiden Seiten sind, die immer wieder zusammengeführt werden müssen, nämlich die Basis der Parteiarbeiter und die zentrale Führung, die nur über dieses moralische und intellektuelle Moment ständig neu zusammengeführt werden können und Bestand haben. Und Gramsci hatte allen Grund, darüber zu denken, denn mit sektiererischen Positionen, die zu spät bereinigt wurden, war die italienische KP eines der ersten Opfer des Faschismus geworden. Unter den Bedingungen seiner Kerkerhaft hat Gramsci umfassend und neu das Problem der Bündnispolitik breiter Massen gegen Faschismus, gegen Kapitalismus, Taylorisierung und Fordismus neu gedacht. Dies also die eine Seite. Das heißt, Demokratie schließt in sich eine politische wie moralische Seite jedes Prozesses ein; es existiert kein Prozess, der nicht zugleich Kulturbildungsprozess ist, indem in ihm die neuen Möglichkeiten der Menschen untereinander, wo die freie Entwicklung eines jeden die Voraussetzung der freien Entwicklung aller ist, zugleich aufscheinen (…)

Zentraler Punkt ist, dass die Dialektik verloren geht; der historische Materialismus wird zum eigentlichen Materialismus; mit den neuen Gesetzen der Geschichte sind die Naturgesetzmäßigkeiten quasi aufgehoben, die Gesetze der Geschichte sind gewiss im Sinne der notwendigen möglichst durchgängigen Verstaatlichung der Ökonomie, und zweitens, das Mittel, um das zu tun, ist bekannt: die Organisationsstruktur der proletarischen Partei, der demokratische Zentralismus. Die Dialektik ging also verloren, die Ökonomie wurde falsch und verkürzt verstanden – Ökonomie nicht als die Gesamtheit der komplizierten Vermittlungsverhältnisse zwischen Konsum und Produktion, sondern Ökonomie nur im eigentlichen Sinne der Produktion – und deshalb musste davon ausgegangen werden bei einem solchen verkürzten Ökonomieverständnis, in dem aber ja das Sein das Bewusstsein bestimmte, also die Ökonomie das Bewusstsein, dass die Massen, die in die Planerstellung, in die eigentliche Ökonomie nicht einbezogen waren, mit dem Bewusstsein nicht so weit sein konnten wie die Führung; also entstand dieser seltsame Subjektivismus. (…) Entsprechend wirkt sich das in der Philosophie aus. Der Hauptfeind des so verstandenen und primitivisierten Marxismus wird der Idealismus, wozu dann auch Hegel zählt, das heißt, der Hauptfeind ist nicht mehr der Dualismus, der Hauptfeind ist nicht die Zergliederung der Welt, sondern der Hauptfeind ist auch die Einheit des Denkens der Welt, sofern es idealistisch ist. Und das stellt Engels’ Bemerkung gänzlich auf den Kopf, dass ein kluger Idealismus dem Marxismus viel näher steht als ein grober Materialismus. Diese Tradition ging verloren. Dies hat hohe Bedeutung, weil damit eine tiefgreifende Verflachung der Philosophie, aber auch der Naturwissenschaften erfolgt, Eingriffe in fast allen Wissenschaftsbereichen entsprechend diesen Doktrinen sind zu zeigen, nicht nur in der Frage Genetik, Lyssenko u. ä., in der Frage der Sprachwissenschaft, Psychologie, Pädagogik usw. Und das bedeutet nicht einfach bloß Ruhigstellung, sondern zum Teil Liquidierung im wörtlichen Sinne.

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"Persönlichkeit – Demokratie – Vernunft", UZ vom 18. Dezember 2020



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