Olaf Scholz (SPD) hat den Goldman-Sachs-Manager Jörg Kukies zum Staatssekretär im Finanzministerium gemacht. Mit Jens Spahn (CDU) wurde gleich ein Pharma-Lobbiest zum Gesundheitsminister gekürt. Im Kabinett Merkel IV sinken die ohnehin nicht ausgeprägten Hemmschwellen deutlich.
Der 37-jährige CDU-Karrierist Spahn segelt unter der Flagge: jung, dynamisch, schwul und reaktionär. Schwul ist hip, das hatte schon Klaus Wowereit erkannt: „Ich bin schwul und das ist auch gut so.“ In den Zeiten der Identitätspolitik, in denen das Thema Geschlecht und sexuelle Orientierung den Kampf um soziale Emanzipation, Demokratie, Solidarität und Frieden verdrängt hat, kann das Etikett „schwul“ auch neoliberalen Hardlinern zu medialer Akzeptanz verhelfen.
Das Ganze ist nicht neu. Die Betonung der kulturellen Differenzen war schon die Antwort der feudalen Reaktion auf den aufklärerischen Universalismus der Französischen Revolution. Gegen die Proklamation allgemeiner Menschenrechte setzte sie das partikulare Interesse, die Sakralisierung der Identität. Die Ideale der Differenz und der Diversität haben auch heute dasjenige der Solidarität verdrängt. Herausgekommen ist der Individualismuskult der Hammelherde. Dazu kommt heute die unschlagbare Opferrolle. Opfer sind prinzipiell schuldlos und unbedingt glaubwürdig. Eine übergroße Attraktion, auch für die sich linksliberal fühlenden Quartiere.
Dieser neue Stallgeruch der jungdynamischen Reaktionäre hätte manchen, der alten, in den Stahlgewittern des Tausendjährigen Reiches sozialisierten Kämpen etwas befremdet, aber entscheidend ist die politische Performence. Und die ließ bei der gepriesenen Übermutter im Kanzleramt spätestens seit der „Flüchtlingskrise“ doch einiges zu wünschen übrig.
Weiter sind die zentrifugalen Kräfte in der EU keineswegs gebannt. Im Gegenteil. Auch wenn Deutschland durch seine Agenda-Selbstverarmung eine „Schwarze Null“ vorweisen kann, die andere Seite derselben Medaille sind die ökonomischen und sozialen Katastrophen in den „Peripheriestaaten“ der EU. Diese „Beggar-thy-Neighbor-Politik“ hat Berlin in der EU nicht gerade beliebt gemacht. Die EU ist tief gespalten, Europa-kritische Bewegungen sind in vielen Staaten auf dem Vormarsch, auch wenn viele (private Banken-)Probleme vorerst noch mit EZB-Geld und riesigen, öffentlichen Krediten zugekleistert worden sind. Diese ausgesprochen prekäre Lage dürfte kaum besser werden, wenn sich der Handelskonflikt zwischen den USA und China/Russland und Deutschland/EU(?) erst richtig zuspitzt.
Die Kritik an den Folgen der neoliberalen Zurichtung ist nach dem Übergang des angeblich linken Reformismus auf neoliberale Positionen weitgehend von der rechten Seite. Auch in Deutschland. In Sachsen ist die AfD stärkste Partei geworden. Damit ist der Anspruch der Union, insbesondere des bayrischen Auslegers, dass rechts von ihr nur noch die Wand existiert, pulverisiert. Diese Lage lässt für die Union zwei Optionen als möglich erscheinen: Integration oder Koalition.
Die rechten Reaktionäre, wie die „WerteUnion“ (Alexander Mitsch, Simone Baum, Thomas Jahn u. a.), der „Berliner Kreis“ (Wolfgang Bosbach, Philipp Lengsfeld, Hans-Peter Uhl u. a.), oder Alexander Dobrindt (konservative Revolution) stehen für die Integrationsvariante, den Versuch, die Union weit nach rechts zu rücken, Themen der AfD ins Parteiprogramm zu integrieren – bei gleichzeitiger verbaler Abgrenzung zur AfD. Am 7. Mai 2018 verabschiedete eine Versammlung der „WerteUnion“, Minister Spahn sandte ein Grußwort, ein „Konservatives Manifest für Deutschland“, in dem sie neben den üblichen Verbeugungen vor „Freiheit, Sicherheit, Demokratie, Marktwirtschaft, Ehe und Familie“ und dem „christlichen Menschenbild“ sowie der „westlichen Wertegemeinschaft“ natürlich auch „Agressoren und totalitären Ideologien entschieden entgegen“ tritt. Insbesondere seien „islamischer Extremismus und Scharia“ mit unserm Grundgesetz nicht vereinbar. Die „ungesteuerte Zuwanderung nach Deutschland und in unser Sozialsystem“ sei abzuwenden. „Die Masseneinwanderung seit 2015“ sei „rechtswidrig und falsch“ gewesen.
Selbstredend fordert die „WerteUnion“, um Deutschland nicht nur am Hindukusch zu verteidigen, eine „deutlich verbesserte Einsatzfähigkeit unserer Bundeswehr“, die Einhaltung des Zwei-Prozent-Finanzierungsziels, ebenso die „Wiedereinführung der Wehrpflicht“.
Sozialpolitisch will man das „Abwälzen aktueller Probleme auf künftige Generationen durch immer neue Sozialleistungen und Subventionen stoppen“. Neben Senkung von Steuer- und Sozialabgaben macht sich die „WerteUnion“ für die „Wahrung des Lohnabstandsgebots sowie eine grundlegende Reform unserer sozialen Sicherungssysteme“, also eine Art Agenda 2.0, stark.
Dem Bekenntnis zur EU folgen die Einschränkungen, dass nur jene der EU beitreten sollten, die die Maastrichtkriterien auch erfüllen. Wer das nicht kann, möge bitte gehen. Außerdem solle sich die EU, subsidiär, auf Aufgaben beschränken, die von den Mitgliedstaaten nicht wahrgenommen werden können. Und die Türkei gehöre ohnehin nicht dazu.
Die jung-dynamischen CDU-Karrieristen treibt, neben dem Kampf um gutdotierte Posten, das Wahl- und Umfrage-gesättigte Gefühl, dass weitere vier Jahre im Merkel-Modus den Herausforderungen der Zukunft nicht gerecht werden. Sie wittern die Chance auf eine deutlich verschärfte, reaktionäre Gangart und eine Position als deren Protagonisten wie beispielseise Sebastian Kurz in Österreich und Emanuelle Macron in Frankreich stehen. In Deutschland heißt ihr Held: Jens Spahn.
Ob das Konzept aufgeht, ist eine andere Sache. Offensive Reaktionäre wie Spahn haben sicher nicht die sedierende Wirkung der Kanzlerin. Spahn bei der Neujahrsansprache – nun ja. Aber Seditativa sind nicht alles. Die Erfolge von Kurz und Macron zeigen, dass auch dieser Weg Chancen hat – so lange die unten stillhalten.