Mehr Zentralabitur bringt mehr Ungerechtigkeit

Pauken für die Quote

Von Michel Spatz

Mehr als 100000 Schüler, Eltern und Lehrer aus elf Bundesländern haben mit einer Online-Petition gegen die Schwierigkeit des diesjährigen Mathe-Abiturs protestiert. Die Aufgaben sind noch nicht öffentlich, aber auch Korrektoren beschwerten sich. Deswegen war die Aktion auch schon teilweise erfolgreich. In mehreren Bundesländern werden beklagte Prüfungen weniger streng bewertet. Alle Aufgaben, über die es Beschwerden gab, stammen ganz oder teilweise aus dem zentralen,bundesweiten Pool an Abituraufgaben.

Die Kultusministerkonferenz reagierte darauf Anfang Juni in Berlin mit einem Beschluss, der die Situation für Schüler weiter verschlechtern wird. Bis 2024 soll es bei den Aufgaben aus dem zentralen Pool keine landesweiten Modifizierungsmöglichkeiten mehr geben, um sich einer bundesweiten Vergleichbarkeit des Abiturs stärker anzunähern und so die Studienplatzvergabe angeblich gerechter zu gestalten. Zwar müssen die Aufgaben aus dem zentralen Pool nicht genutzt werden, aber es ist erstens weniger Arbeit und somit Personaleinsparung für die Bundesländer und zweitens zeigt das einen politischen Trend in Richtung immer stärkerer, bundesweiter Zentralisierung des Abiturs.

Dieser Trend richtet sich gegen die Interessen der Schülerschaft und führt in keinem Fall zu mehr Gerechtigkeit. So können sich Kinder wohlhabenderer Eltern Nachhilfe leisten und besuchen Schulen, die mehr Lehrer sowie kleinere Klassen haben und mit besserem Material arbeiten, während andere solche Vorzüge nicht nutzen können. Diese unterschiedlichen Situationen zeigen, dass gleiche Abituraufgaben nicht zu höherer Gerechtigkeit bei der Studienplatzvergabe in diesem ungerechten Schulsystem führen.

Das Abitur sagt nichts darüber aus, wie geeignet man für bestimmte Berufe oder Studiengänge ist, denn das meiste hat man nach der Klausur wieder vergessen. Noten zeigen vor allem, wie gut die Ausgangsbedingungen sind und wie gut Schüler Lernstoff pauken können. Die großen Konzerne brauchen Noten, um auszusortieren. Zudem spalten Noten die Schülerschaft, sodass der Einzelne sich darauf fokussiert, für einen Notenschnitt zu kämpfen, der für den Wunschstudiengang reicht, statt gemeinsam für ein besseres Bildungssystem zu kämpfen.

Bürgerliche Zeitungen bringen andere Erklärungen für die Beschwerden über das Mathe-Abitur: Sie sehen als das Problem, dass das Gymnasium zu einer Masseneinrichtung geworden ist, weswegen die Qualität der Abschlüsse und die Fähigkeiten der Abiturienten abnehmen. Das ist falsch, wie die letzte PISA- und „Internationale Grundschul-Lese-Untersuchung“ beweisen. Es wird nicht nach Intelligenz, sondern nach sozialer Herkunft aussortiert. So ist die Erklärung der bürgerlichen Medien menschenverachtend. Denn doof geboren ist keiner und bei geeigneten Rahmenbedingungen kann jeder alles lernen. Bildung wird nicht schlechter, nur weil mehr Leute etwas davon bekommen. Es wird auch nicht weniger in den Schulen vermittelt, sondern mehr. Die Prüfungsanforderungen und die Stoffdichte sind durch G8, Zentralabitur und geänderte Prüfungsvorschriften gestiegen.

Allerdings ist auch falsch, dass mehr Abiturienten mehr Gerechtigkeit bedeuten. Die Produktivkraftentwicklung und die Globalisierung führen dazu, dass die deutschen Unternehmen mehr Leute brauchen, die technische Prozesse ansatzweise verstehen, und weniger Leute, die Hilfstätigkeiten ausüben. So ist die Zukunft der Heranwachsenden mit Abitur heute weniger gesichert als früher, Die Frage ist nicht mehr nur, ob du Abitur hast, sondern viel stärker, wie gut es ist. Heute wird über Numerus Clausus und über Ausbildungsberufe, für die man immer öfter das Abitur braucht, aussortiert.

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"Pauken für die Quote", UZ vom 9. August 2019



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