Taliban greifen an, Regierung verliert Rückhalt

Patt in Afghanistan

Von Matin Baraki

Friedenslösung

Folgende Schritte könnten eine friedliche Perspektive für Afghanistan eröffnen:

– Ein einseitiger und bedingungsloser Waffenstillstand der NATO. Ablösung der NATO-Truppen durch Einheiten der islamischen und blockfreien Staaten. Auflösung aller NATO-Militärstützpunkte. Auflösung aller bewaffneter Verbände der Warlords und der ausländischen und afghanischen privaten Sicherheitsfirmen.

– Eine nationale Versöhnungspolitik mit allen politischen Gruppierungen, einschließlich der islamisch geprägten. Wahl einer nationalen Loya Djerga (Ratsversammlung) – ohne Ernennung von Abgeordneten durch den Präsidenten, Wahlen unter Kontrolle unabhängiger internationaler Organisationen. Auf dieser Loya Djerga sollen eine provisorische Regierung gewählt werden und ein Verfassungsentwurf ausgearbeitet werden.

– Abschaffung der Politik der „offenen Tür“, die allen ausländischen Mächten dieselben Rechte zusichert. Einleitung einer auf nationalen Interessen basierenden Wirtschafts-, Finanz-, Zoll- und Steuerpolitik. Zahlungen der NATO-Staaten für den Wiederaufbau. mb

Am 8. Dezember 2015 haben die Taliban in einer Kommando-Aktion den ca. 16 Kilometer außerhalb der Stadt Kandahar liegenden Flughafen gestürmt und Geiseln genommen, teilte der Sprecher des Provinzgouverneurs von Kandahar, Samim Chpalwak, mit. Mehrere „Märtyrer“ seien „ausgerüstet mit schweren und leichten Waffen“ in den Flughafenkomplex eingedrungen und hätten die „Invasionstruppen“ attackiert, hieß es in einer Erklärung der Taliban. Bei den 27 Stunden dauernden Gefechten seien mindestens 61 Menschen getötet worden, darunter auch die elf Angreifer, berichteten die Presseagenturen AFP und DPA aus Kabul. Nun sterben auf beiden Seiten wieder Afghanen für die strategischen Ziele der Besatzer.

Die NATO hat unter US-Führung in den letzten 14 Jahren bis zu 150000 Soldaten am Hindukusch eingesetzt. Der Widerstand, subsumiert unter der Bezeichnung „Taliban“ konnte zurückgedrängt, jedoch nicht endgültig zerschlagen werden. Im Gegenteil. Die blitzartige Einnahme der nordafghanischen Provinzhauptstadt Kunduz (ehemals deutscher Besatzungssektor) am 28. September 2015 durch den islamisch geprägten Widerstand ist eine dreifache Niederlage für die Administration in Kabul und für die NATO-Besatzer: nämlich politisch, moralisch und militärisch:

Politisch, weil die Besatzer in der afghanischen Bevölkerung verachtet, aber die Taliban relativ wohlwollend betrachtet werden. Moralisch, weil die afghanische Administration als Pudel der USA gilt und die NATO-Soldateska als Mörder von tausenden afghanischen Zivilisten gelten. Militärisch, weil die NATO es in 14 Jahren Krieg mit teilweise 150 000 Soldaten nicht geschafft hat, das Land zu stabilisieren. Eine militärische Lösung für Afghanistan gab es nicht, gibt es nicht und wird es auch nicht geben.

Die Bombardierung des Krankenhauses von Ärzte ohne Grenzen „Médecins Sans Frontières“ (MSF) am 28. September 2015 durch die US-Besatzer, wobei Patienten in ihren Betten verkohlten und Ärzte getötet wurden, wird wie die schon zahlreich begangenen Verbrechen der US- und NATO-Besatzer in die afghanische Geschichte eingehen. Die MSF spricht von einem „Kriegsverbrechen“.

Auch die zusätzliche Verstärkung der NATO-Truppen auf eine Gesamtstärke von rund 12 000 Mann, darunter 10 000 US- und 980 Bundeswehrsoldaten (zuvor waren 850 geplant), kann die Lage am Hindukusch nicht stabilisieren. Die Einnahme von Kunduz hat deutlich vor Augen geführt, dass die afghanischen Sicherheitskräfte es bevorzugen wegzulaufen statt zu kämpfen, soweit sie den Widerstand zu Gesicht bekommen. Erst wenn die NATO-Ausbilder kommen und sie auf die Taliban hetzen, fangen sie nolens volens an zu kämpfen. Die Kabuler Administration ist national wie international in eine nie dagewesene Legitimationskrise geraten. Sie steht am Rande eines Zusammenbruchs. Die bei der Postenverteilung vernachlässigten islamistischen Warlords, wie der größte Kriegsverbrecher und ideologischer Agent des saudischen Wahhabismus, Abdul Rasul Sayyaf, der Warlord der sog. Nordallianz, Mohammad Junus Qanuni, und der Warlord aus der westlichen Provinz Herat, Ismael Khan, usw. haben ein Bündnis unter der Bezeichnung „Schora-e Harasat wa Subat Afghanistan“ (Rat für die Wahrung und Standhaftigkeit Afghanistans) geschlossen. Damit wird der Spielraum für Reformen und eine Versöhnung mit den Taliban, seitens der NATO und auch der Bundesregierung Bedingung für die weitere Unterstützung der Kabuler Administration, noch schmaler. Dieser „Rat“ der Warlords torpediert die Verhandlungen mit den Taliban. Denn die Taliban haben schon angekündigt, bei einer Regierungsbeteiligung die Akten der korrupten Warlords und Politiker offenzulegen sowie diese rechtlich verfolgen zu wollen.

„Die islamistischen Warlords torpedieren

die Verhandlungen mit den Taliban.“

Nach einem kürzlich erschienenen Bericht der Bundeswehr „Ausblick Sicherheitslage 2016“ steht nach der Winterpause am Hindukusch im kommenden Jahr eine neue Offensive der Taliban bevor. In dem Bericht wird den Taliban eine „zunehmend erfolgreiche Kampfführung“ bescheinigt. Sie könnten ihre Aktionen „effektiver koordinieren“ und in größeren Gruppen auftreten. Der Widerstand ist, ob Winter oder Sommer, ungehindert auf dem Vormarsch. Insgesamt kann man die Lage in Afghanistan als eine sich abzeichnende Katastrophe bezeichnen. Während die Taliban beinahe flächendeckend über die südlichen, durch Paschtunen besiedelten Provinzen Afghanistans, insbesondere in Helmand und Kandahar, herrschen und sich auch in nördlichen Provinzen, wie Kunduz, etablieren können, setzt sich der Islamische Staat (IS) in zunehmendem Maße in den beiden östlichen Provinzen Nangarhar und Nuristan durch.

Der Kabuler Präsident, Ashraf Ghani, ist schwach und unfähig, die sich immer mehr abzeichnende Destabilisierung des Landes aufzuhalten. Die afghanische Armee „Afghan National Army“ (ANA) erleidet im Kampf gegen die Taliban hohe Verluste und die korrupte „Afghan National Police“ (ANP) erweist sich als unfähig, die Kontrolle über die umstrittenen Gebiete zu übernehmen und findet sich in vielen Bezirken im Süden mit dem fait accomplit der Herrschaft der Taliban ab. Einzelne Bezirksgouverneure treten nach ihrer Ernennung ihre Funktion gar nicht erst an, sondern bleiben in Kabul.

Dennoch werden die Taliban nicht in der Lage sein, wieder siegreich nach Kabul einzumarschieren. Sie können jedoch jederzeit in beliebigen Teilen des Landes Militäraktionen durchführen und so für eine dauerhafte Instabilität sorgen. Man kann mit Fug und Recht von einer Pattsituation sprechen. Für eine Machtübernahme der Taliban sind heute die Bedingungen weder national noch international günstig. Sowohl Teile der Bevölkerung, als auch die Warlords und die NATO werden dies nicht zulassen.

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"Patt in Afghanistan", UZ vom 8. Januar 2016



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