Vor der Tarifrunde im Öffentlichen Dienst klagen die Kommunen über hohe Kosten – und vertauschen dabei Ursache und Wirkung

„Passt nicht in diese Zeit“

Es passiert eher selten, dass hochrangige Verwaltungsbeamte durch ein besonderes Maß an Kreativität auffallen. Doch die Tarifrunde im Öffentlichen Dienst setzt ungeahnte Kräfte frei. Karin Welge, Präsidentin der Vereinigung der kommunalen Arbeitgeber (VKA), wartete in der vergangenen Woche jedenfalls mit einer eher überraschenden Argumentation auf. Die Gewerkschaften würden „überproportionale Steigerungen für die unteren und mittleren Lohngruppen“ fordern, um dadurch die Attraktivität des Öffentlichen Dienstes zu erhöhen. Das sei aber nicht zielführend, hieß es in der Pressemitteilung des VKA, weil eher Anreize für „Führungskräfte“ gebraucht würden. „Die Gewerkschaften wissen schließlich ebenfalls, dass die Engpässe nicht da sind, wo sie in besonderem Maße Gehaltszuwächse fordern“, so Welge, die bei der Gelegenheit auf die vermeintlich gute Einkommenssituation von Erzieherinnen und Erziehern verwies.

Wenn die Gewerkschaften höhere Löhne fordern, spielen Klagen über den „Fachkräftemangel“ plötzlich keine Rolle mehr. Sobald aber mehr Freizeit gefordert wird, sieht die Welt schon anders aus. In der gleichen Pressemitteilung erklärte Welge nämlich auch: Es „dürfte wohl kaum im Interesse der Gewerkschaften sein, wenn Kitas zukünftig häufiger schließen, der Bürgerservice eingeschränkt wird oder Stationen im Krankenhaus geschlossen werden müssen, weil nicht genug Pflegekräfte verfügbar sind“. Die geforderten drei freien Tage könnten deshalb „dem so wichtigen Vertrauen in die Stabilität und Verlässlichkeit des Öffentlichen Dienstes schaden“.

Wir halten fest: die unteren und mittleren Lohngruppen müssen nicht besser bezahlt werden, weil sie schon attraktiv genug sind. Mehr Freizeit dürfen die gleichen Menschen aber nicht erhalten, weil es zu wenige von ihnen gibt. Zum Auftakt der Tarifrunde greifen die Kommunen tief in die Trickkiste. Doch die Stellungnahme des VKA ging noch über diese Herausforderung der Logik hinaus. Die gewerkschaftlichen Forderungen seien eine Gefahr für „die Handlungsfähigkeit der Kommunen“, erläuterte Welge. „Jeder Euro, der für höhere Gehälter ausgegeben werden muss, fehlt an anderer Stelle, beispielsweise für wichtige Investitionen in die Daseinsvorsorge.“

Es ist das alte Spiel: Die Bedürfnisse der Bevölkerung und die Arbeitsbedingungen der Beschäftigten im Öffentlichen Dienst sollen gegeneinander ausgespielt werden. Wahr ist, dass die Kommunen zu wenig Geld haben, um ihre Aufgaben zu erfüllen. Der Sanierungsstau in den Städten und Gemeinden liegt auf einem Rekordwert von 186 Milliarden Euro, was sich nicht nur an einstürzenden Brücken, sondern auch an verfallenden Bildungs- und Kultureinrichtungen bemerkbar macht. Geld, um diesen Berg abzutragen, gibt es nicht. Allein im laufenden Jahr rechnen die kommunalen Spitzenverbände mit einem Defizit von 13,2 Milliarden Euro – eine deutliche Verschlechterung zum Vorjahr, wo die kommunalen Haushalte mit „nur“ 6,2 Milliarden Euro in den Miesen waren. Schuld daran sind jedoch keineswegs die gestiegenen Gehälter der öffentlich Beschäftigten.

Im Juli dieses Jahres stellten die kommunalen Spitzenverbände ihre Prognosen zu den kommunalen Haushalten vor. „Die Kommunalfinanzen sind in einer dauerhaften Schieflage. Wir brauchen dringend einen größeren Anteil an den Gemeinschaftssteuern. Außerdem muss endlich Schluss damit sein, dass Bund und Länder die Aufgaben der Kommunen immer mehr ausweiten, ohne für eine ausreichende Finanzierung zu sorgen“, erklärten die drei Präsidenten von Städtetag, Städte- und Gemeindebund sowie dem Landkreistag gemeinsam. Als Ursachen nannten sie die Inflation, steigende Fallzahlen im Sozialbereich, die unzureichende Krankenhausfinanzierung, das defizitäre Deutschlandticket und die „langfristig ungeklärte Finanzierung der Wärmewende“. Aufgrund der Wohnungskrise stiegen die kommunalen Zahlungen für Unterkunftskosten. Zudem beklagten die Präsidenten, dass „Bund und Länder ihre Haushalte entlasten, indem sie die Kommunen faktisch zwingen, als Ausfallbürgen einzuspringen“.

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Die Klagegesänge der Kommunen sollten die Beschäftigten nicht beeindrucken. (Foto: Uwe Bitzel/r-mediabase.eu)

Die Finanzsituation der Kommunen war in der BRD nie rosig. Über Jahrzehnte des neoliberalen Umbaus wurden die Gemeinden planmäßig in den Ruin getrieben, zentrale Aufgaben der Daseinsvorsorge privatisiert oder eingespart. Der aktuell sprunghafte Anstieg des kommunalen Defizits aber hat seine Ursachen zuerst in der Kriegs- und Krisenpolitik. Über die Kommunen werden die Kriegskosten und die Folgen des Wirtschaftskriegs auf die Bevölkerung abgewälzt. Dieser Mechanismus hilft dem Bund dabei, Hochrüstung und Waffenlieferungen zu finanzieren und gleichzeitig an der „Schuldenbremse“ festzuhalten. In den Papieren der kommunalen Spitzenverbände findet sich – wenig überraschend – kein Hinweis auf diesen Zusammenhang. Stattdessen heißt es im letzten Satz der Stellungnahme aus dem Juli pflichtschuldig: „Hinzu kommt der historisch höchste Tarifabschluss auf kommunaler Ebene aus dem vergangenen Jahr.“

Wer den Löhnen der Angestellten die Schuld an den steigenden Kosten gibt, vertauscht Ursache und Wirkung. In einer Zeit, in der Aufgaben – wie der Rechtsanspruch auf einen Kita-Platz – ohne ausreichende Gegenfinanzierung an die Kommunen übertragen werden, ist es ebenso einfach wie oberflächlich, das Defizit auf die Löhne der Erzieher zu schieben. Denn selbstverständlich kostet das Personal, das diese Aufgaben übernimmt, Geld. Gerade die Mittel dafür müsste doch von den Auftraggebern in Bund und Ländern zur Verfügung gestellt werden. Dass der VKA diesen offensichtlichen Schluss nicht zieht, dürfte auch daran liegen, dass er sich die Rolle des „Arbeitgebers“ in der Tarifrunde mit Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) teilt. Als kleinster gemeinsamer Nenner bleibt das Streben nach einer verschärften Ausbeutung der Beschäftigten.

Hinzu kommt, dass es für die Wahrnehmung dieser übertragenen Aufgaben noch immer zu wenig Personal gibt. Allein im vergangenen Jahr haben nach Berechnungen des Paritätischen Gesamtverbandes rund 125.000 Erzieher­innen und Erzieher in der Kindertagesbetreuung gefehlt. Es ist schon ein Kunststück, die Unterfinanzierung eines vollkommen unterbesetzten Zweiges der Daseinsvorsorge mit zu hohen Personalkosten zu begründen – also mit Gehältern, die überhaupt nicht gezahlt werden. Solange der Trend zu Arbeitsverdichtung, Überstunden und mangelnder Wertschätzung anhält, wird sich an diesem Missverhältnis auch wenig ändern. Mit seiner Ignoranz gegenüber den betroffenen Lohngruppen leistet der VKA diesem Prozess Vorschub.

Die Funktionäre, die die Kommunen auf Bundesebene vertreten, geben sich gerne ganz besonders sachlich, trocken und technokratisch. In Wahrheit beten aber auch sie nur die herrschenden Erzählungen nach. Das zeigte sich in der Migrationsdebatte, als die kommunalen Spitzenverbände mehr Abschiebungen forderten. Plötzlich waren es die Geflüchteten, die für die kommunale Schieflage verantwortlich gemacht wurden. Kurz vor der Tarifrunde geraten nun wieder die eigenen Beschäftigten in den Fokus. Ein paar Monate lang werden sie schuld sein, wenn Ämter unterbesetzt sind, Jugendzentren schließen und Straßen zerfallen. Beeindrucken lassen sollten sie sich davon nicht. Auch nicht davon, dass VKA-Präsidentin Welge ihre Forderungen mit dem Satz kommentiert: „Das ist schlicht nicht zu stemmen und passt nicht in diese Zeit.“ Für die Finanzierung des Kriegskurses steht genug Geld zur Verfügung, das den Kommunen mit Absicht vorenthalten wird. Nichts passt besser in „diese Zeit“, als es sich zu holen.

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"„Passt nicht in diese Zeit“", UZ vom 18. Oktober 2024



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