Mit Imperien kennen sich die Malier aus – ihre Geschichte ist gespickt davon. Das berühmteste Beispiel ist das Reich der Malinké. 1236 gegründet, beherrschte es weite Teile Westafrikas und den Transsahara-Handel bis Mitte des 14. Jahrhunderts.
Vom Glanz der alten Großreiche ist nach 139 Jahren kolonialer und neokolonialer Beherrschung Malis durch den französischen Imperialismus nichts mehr übrig. Es gehört heute zu den ärmsten Ländern der Welt. Doch sorgt das Land wieder für Aufsehen: Am 15. August haben die letzten französischen Soldaten Mali verlassen, und das ist der Politik der Übergangsregierung in der Hauptstadt Bamako geschuldet.
Malis dringendstes Problem ist die Sicherheitslage, die sich infolge des NATO-Angriffs auf Libyen und des Sturzes Muammar al-Gaddafis deutlich verschlechterte. Die französischen Militäreinsätze in Mali richteten sich offiziell gegen islamistische Terroristen. Zu Beginn dieser Einsätze waren Anschläge der islamistischen Milizen auf den Norden beschränkt. Die rückten dann aber immer weiter in Richtung Bamako vor und brachten Mopti, Teile der Region Sikasso und schließlich Koulikoro, keine 60 Kilometer von Bamako entfernt, unter ihre Kontrolle.
Angesichts dieses schreienden Misserfolgs der französischen Militärmissionen wandte sich die Regierung Assimi Goïtas Hilfe suchend an Moskau. Seit der Unabhängigkeit Malis 1960 pflegt Bamako gute Beziehungen erst zur Sowjetunion, dann zur Russischen Föderation. Premierminister Choguel Kokalla Maïga hat in der Sowjetunion studiert und spricht Russisch. Aus Moskau kam Hilfe: Die Militärfirma Wagner schickte 1.000 Söldner. Ein Tropfen auf den heißen Stein angesichts der mehr als 1,2 Millionen Quadratkilometer, die das Territorium Malis umfasst. Frankreichs Präsident Emmanuel Macron entschied daraufhin unilateral, seine Truppen ins benachbarte Niger zu verschieben.
In Mali sorgte der Abzug der Franzosen für Begeisterung. Die praktische Erfahrung, sich als eines der ärmsten Länder der Welt gegen imperialistische Einflussnahme zur Wehr setzen zu können, motiviert. In den umliegenden Ländern der Westafrikanischen Wirtschaftsgemeinschaft (ECOWAS) wird das registriert. Nicht nur von den Kleptokraten, die um ihre Macht fürchten, sondern auch von den weiten Teilen der Bevölkerungen, die den westlichen Imperialismus und dessen einheimische Nutznießer endlich auf dem Müllhaufen der Geschichte entsorgt wissen wollen.
Die Malier schöpfen erstmals seit Langem wieder Hoffnung. Die ECOWAS-Sanktionen sind aufgehoben. Parlamentswahlen sind für November 2023 geplant, Präsidentschaftswahlen für Februar 2024. Die Übergangsregierung fährt erste Sozialprogramme. Präsident Goïta hat bislang über 200 Brunnen bohren lassen, um die notorisch unzuverlässige Wasserversorgung zu verbessern. Vor allem Schulen und Krankenhäuser profitieren davon. Die Ausstattung der Krankenhäuser verbessert sich – langsam, aber merklich. Subventionierter Preise für Grundnahrungsmittel wegen liegt die Inflationsrate niedriger als in den Nachbarländern. Maßnahmen gegen Betrug bei Prüfungen haben das Niveau des diesjährigen Abiturjahrgangs gehoben. Die Einstellungsverfahren für den Öffentlichen Dienst laufen jetzt transparenter ab. Erste Schritte im Kampf gegen die allgegenwärtige Korruption wirken: Wer zu einer Haftstrafe verurteilt wird, kann sich kaum noch durch Bestechung vor dem Gefängnis retten.
Den Kampf gegen islamistische Terrormilizen führt Malis Militär jetzt wieder selbst. Neben der Hilfe aus Russland bekommt Mali dafür auch Unterstützung aus der Türkei, wie UZ aus Militärkreisen in Bamako erfuhr. Verhandlungen über eine solche Kooperation laufen auch mit dem Iran. Um sich gegen französische Einflussnahme zu wehren, hat die Regierung in Bamako jetzt den UN-Sicherheitsrat angerufen. Sie wirft Frankreich Verletzung von Überflugrechten in mehr als 50 Fällen, Spionage und die Unterstützung von Terroristen vor.
Um die gewachsene Unabhängigkeit langfristig abzusichern und auszubauen, arbeitet die Übergangsregierung an einer neuen Verfassung. Dafür finden landesweit Diskussionsrunden statt, auch in Betrieben, Bildungseinrichtungen und Gewerkschaften. Eine zentrale Redaktion sammelt Vorschläge und arbeitet einen Entwurf aus. Die Redaktion ist hochkarätig besetzt mit Juristen und Wissenschaftlern diverser Disziplinen. Ein Referendum über die neue Verfassung ist für März 2023 geplant.
Auch mit Verfassungen kennt man sich in Mali aus: Die des Reichs der Malinké von 1236 gilt als erste der Welt.