Zu den sozialen Folgen des Wirtschaftskriegs

Panik auf der Titanic

Nein, das ist natürlich noch keine revolutionäre Situation. Aber die Nachrichten über die Nervosität sowohl der Herrschenden als auch der Beherrschten angesichts der sozialen Folgen des Wirtschaftskriegskurses der Bundesregierung häufen sich.

Die Vereinigung der Spargel- und Beerenbauer in Niedersachsen berichtet von einer deutlich gesunkenen Nachfrage nach dem weißen Edelgemüse, eine Umfrage der Wirtschaftsprüfungsdatei Schufa von 38 Prozent der Bevölkerung, denen es nach eigener Einschätzung zunehmend schwerer falle, ihren Lebensunterhalt zu bestreiten. Im Januar dieses Jahres lag dieser Wert noch bei 25 Prozent. Jeder sechste rechnet damit, bald einen Kredit aufnehmen zu müssen, um die laufenden Kosten zu decken. Die Sorgen bei den unteren Klassen wachsen. Kommen erst die Kreditrechnungen mit Zinsen, werden sie zu Verzweiflung werden.

Das Knirschen von morgen ist hörbar selbst dort, wo es im Moment rund läuft: Allein in der Hauptstadt Berlin hatten an dem Wochenende vom 20. bis 23. Mai rund 130.000 Menschen das 9-Euro-Ticket gekauft, für das die 2,5-Milliarden-Euro-Gegenfinanzierung des Bundes aus Sicht der Länder nicht reichen wird. Wenn die Aktion ökologisch und ökonomisch irgendeinen Sinn machen soll, muss es ab September um ganz andere Summen gehen, um auf Dauer die dann offensichtlich gewordene Bereitschaft von Millionen, das teuer gewordene Auto stehen zu lassen, durch einen entsprechenden Ausbau der Infrastruktur von Bus und Bahn zu finanzieren.

In dieser Situation ist der laute Streit auf der Brücke der Titanic, auf der wir alle sitzen, bis in die dritte Klasse hinein zu hören. Angesichts des Grummelns unten und der zusammenbrechenden Wahlergebnisse für seine Partei fordert Bundesarbeits­minister Hubertus Heil (SPD) ein „soziales Klimageld“, das einmal im Jahr für alle Alleinstehenden ausgeschüttet werden soll, die weniger als 4000 Euro brutto verdienen – bei Verheirateten das Doppelte. Spöttische Reaktion des Finanzministers: „Da Schulden und Steuererhöhungen ausgeschlossen sind, bin ich auf die Finanzierungs­ideen gespannt.“

War da nicht irgendwo von 100 Milliarden die Rede? Wer wirklich etwas gegen die wachsende soziale Kluft im Lande tun will, sollte seinen Blick dorthin richten.

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"Panik auf der Titanic", UZ vom 3. Juni 2022



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