Vielerorts sind Friedenskundgebungen und -demonstrationen an Ostern geplant. Die Bund- und Länderchefs verfügten jedoch ein generelles Verbot für Ansammlungen im öffentlichen Raum. Was das bedeutet, darüber sprach UZ mit Lühr Henken. Er ist Ko-Sprecher des Bundesausschusses Friedensratschlag, Gründungsmitglied der bundesweiten „Drohnen-Kampagne“, Herausgeber der „Kasseler Schriften zur Friedenspolitik“ und arbeitet mit in der Berliner Friedenskoordination.
UZ: Für Anfang April mobilisiert die Friedensbewegung für die traditionellen Ostermärsche. In der Nacht auf Dienstag haben die Bundesregierung und die Länderchefs überraschend ein generelles Verbot für Ansammlungen im öffentlichen Raum verfügt. Was nun?
Lühr Henken: Das lässt sich zu diesem Zeitpunkt so definitiv nicht sagen. Mich erinnert das stark an die Situation von vor einem Jahr. Damals waren Ostermärsche verboten. Monate später wurden diese Verbote an manchen Orten für rechtswidrig erklärt. Es geht um das Grundrecht auf Versammlungsfreiheit, das uns genommen würde. Rechtliche Schritte sind zu prüfen. Denn die Notwendigkeit zum Demonstrieren ist da. Die Lage war nie herausfordernder seit dem Irak-Krieg 2003. Ich will nur wenige Superlative nennen: Kramp-Karrenbauer hat der NATO gegenüber angegeben, in diesem Jahr 53 Milliarden Euro für Rüstung ausgeben zu wollen. Das ist so viel wie nie seit dem Ende des Kalten Krieges. Die NATO-Militärausgaben übersprangen 2020 erstmals die Grenze von 1.100 Milliarden US-Dollar. Der Export deutscher Großwaffen ist von 2019 auf 2020 um 26 Prozent angewachsen und im Vergleich der beiden letzten Jahrfünfte um mehr als 20 Prozent. Zudem wird der vom Westen angeschlagene Ton gegenüber Russland und China bedrohlich konfrontativ, Feindbilder werden aufgebaut. Allein das schon wären für mich Gründe, auf die Straße zu gehen. Ich möchte allen Organisatorinnen und Organisatoren gratulieren, die auf den Fall des extremen Lockdowns mit Videokonferenzen reagieren können und kann nur wünschen, dass davon viel Gebrauch gemacht wird.
UZ: Die Bundesregierung buttert horrende Beträge ins Militär, während man auf Investitionen ins Gesundheitssystem noch immer vergeblich wartet. Wäre das Geld dort nicht besser aufgehoben?
Lühr Henken: Ja, klar. Und für eine nachhaltige Klimawende, ein gutes Bildungswesen, für soziale Gerechtigkeit und so weiter. Das Absurde ist, dass die Aufrüstungsorgie damit begründet wird, Russland rüste „massiv konventionell und nuklear“ auf. So Kramp-Karrenbauer und ihr Generalinspekteur Zorn im Februar. Das müsste sich doch zuallererst im russischen Militärhaushalt niederschlagen. Danach sucht man allerdings vergeblich. Das Internationale Institut für strategische Studien IISS in London hat jüngst die russischen Militärausgaben analysiert und ermittelt den höchsten Wert nach Ende des Kalten Krieges im Jahr 2015. 2020 lagen sie inflationsbereinigt um 13 Prozent darunter. Unter Anwendung der NATO-Kriterien kommt das IISS 2020 auf 60,6 Milliarden US-Dollar für Russland, für Deutschland auf 58,9 Milliarden US-Dollar. Die deutschen Militärausgaben steigen seit sieben Jahren Jahr für Jahr und sollen bis 2031 zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts erreichen, was dann über 90 Milliarden Euro wären. Dem können wir als Friedensbewegung nur Einhalt gebieten, wenn unser Motto „Abrüsten statt Aufrüsten“ die Meinungsführerschaft in Deutschland erringt und sich in politisches Handeln tatsächlich umsetzt.
UZ: Oftmals kommt es mittlerweile selbst unter Befürwortern der NATO zu Diskussionen über die zukünftige Rolle des Militärbündnisses. Die Friedensbewegung lehnt die NATO mehrheitlich komplett ab. Welche Formen der Sicherheitsarchitektur würden Sie dann alternativ bevorzugen?
Lühr Henken: Ich denke, es muss zunächst darum gehen, zwischen dem Westen einerseits und Russland/China andererseits Ebenen der Zusammenarbeit auf Gebieten zu finden, die von gemeinsamem Interesse sind. Das sollten der Klimawandel und das Iran-Dossier sein. Die US-Regierung muss auf die Vergiftung der Sprache verzichten. Vertrauensbildung muss im Vordergrund stehen, um gegenseitige Rüstungskontrolle und Truppenentflechtungen an den Kontaktzonen zwischen NATO und Russland zu ermöglichen. Vor allem jedoch muss sich in Deutschland und den NATO-Ländern das Bewusstsein bilden, dass die gewaltige Aufrüstung von der NATO ausgeht und nicht von Moskau oder Peking. Die NATO muss zur Abrüstung gezwungen werden.
UZ: Der Bundestagswahlkampf steht kurz bevor. Mit welchen Forderungen will die Friedensbewegung in den Wahlkampf eingreifen?
Lühr Henken: Es muss darum gehen, eine Regierung zu bekommen, die bereit ist, das „2-Prozent-Ziel“ aufzugeben. In der kommenden Legislaturperiode steht die Bewaffnung von Drohnen („Eurodrohne“) wieder auf der Tagesordnung und die Anschaffung von Trägern für US-Atombomben (F-18), die zudem noch treffgenauer und gegen verbunkerte Ziele in Russland effektiviert werden sollen.
Die Hersteller des Jahrhundertprojekts „Future Combat Air System“ (FCAS) für die Luftwaffen Deutschlands, Frankreichs und Spaniens, ein Atomwaffenprojekt, wollen Rahmenverträge, die ihr 500-Milliarden-Euro-Ding über Jahrzehnte absichert. Deshalb hat der Einsatz dafür, dass Deutschland dem Atomwaffenverbotsvertrag beitritt, einen sehr hohen Stellenwert. Auch die Forderungen nach Stopp der Rüstungsexporte und dem Schluss mit den Auslandseinsätzen der Bundeswehr bleiben auf der Tagesordnung ganz oben.