Bundesregierung wälzt die Flüchtlingsproblematik auf Kommunen und Ehrenamt ab

Organisiertes Versagen

Von Max Joswig

Knapp 60 Millionen Menschen waren laut UNHCR Ende 2014 weltweit auf der Flucht. „Dies ist die höchste Zahl, die jemals von UNHCR verzeichnet wurde“, heißt es in einem Report des Flüchtlingshilfswerks der Vereinten Nationen.

Dieser massive Anstieg macht sich auch in Deutschland bemerkbar. Die Bundesagentur für Migration und Flüchtlinge (BAMF) prognostizierte etwa 800 000 Flüchtlinge für das Jahr 2015. Bis Ende Oktober 2015 zählte die BAMF ca. 330 000 Erstanträge. Im Vergleich zum Vorjahr ist das etwa das Doppelte, zu 2008 etwa das 15-fache. Deutschland verzeichnete 2014 europaweit mit Abstand die höchste Zahl an Asylanträgen. Betrachtet man diese allerdings in Relation zur Bevölkerungsanzahl. dann hatte im vergangenen Jahr Schweden den höchsten Asylbewerber-Anteil (8,4 Asylanträge pro tausend Einwohnern). Deutschland belegt mit 2,5 Asylanträgen pro tausend Einwohnern lediglich den achten Platz in Europa. Besonders in den Großstädten der Bundesrepublik werden die Geflüchteten verheerenden Umständen ausgesetzt.

Die miserable Organisation der Unterbringung der Flüchtlinge stellt die Kommunen zunehmend vor schwere Herausforderungen. Die Erstaufnahmeheime sind vielerorts überfüllt. In Berlin sind steigende Zahlen von Flüchtlingen zu beobachten, die unter freiem Himmel schlafen, was, gerade im Hinblick auf die ohnehin schon unzureichende Unterbringung von Obdachlosen im Winter, große Probleme darstellt.

Sozialwohnungen werden gebraucht

„Die Unterbringung von Flüchtlingen ist keine Platzfrage, sondern eine Frage der Organisation und des guten Willens. Dass es derzeit zu wenige Unterkünfte gibt, liegt auch daran, dass bei sinkenden Flüchtlingszahlen in der Vergangenheit vielerorts Unterkünfte dichtgemacht und Strukturen abgebaut wurden. Die Verwaltungen haben zu spät reagiert als absehbar wurde, dass wieder mehr Menschen kommen würden. Zum Problem gehören auch der Abbau des sozialen Wohnungsbaus und der (Aus-)Verkauf städtischer Immobilien“, schreibt Pro-Asyl dazu. „Die Unterbringung in großen Erstaufnahmeeinrichtungen kann immer nur eine Notlösung sein. Mit der Beschleunigung der Verfahren muss die Organisierung von dezentralen Wohnmöglichkeiten einhergehen. Mittelfristig brauchen wir wirklich große Programme zum Bau von Sozialwohnungen und sozialer Infrastruktur – und zwar nicht in Ghettos, sondern mittendrin, für einheimische und für hierher geflüchtete Menschen“, fordert Prof. Dr. Rolf Rosenbrock.

Hinzu kommt, dass sich zahlreiche Hersteller und Händler von Wohncontainern die finanzielle, räumliche und humanitäre Notlage der Kommunen und Flüchtlinge zu nutze machen und die Preise massiv steigern. In Wunstorf, einer kleinen Stadt in Niedersachsen beispielsweise, habe ein Händler den Preis von Mietcontainern für eine Flüchtlingsunterkunft verdreifacht, berichtet der NDR. Die Stadt Köln weicht schon seit längerem auf Notunterkünfte wie Hotels und Pensionen aus, in denen zeitweise 600 von knapp 2 300 Asylbewerbern unterkamen. Nach Angaben des Wohnungsamtes betragen die Kosten pro Person und Tag 22 Euro, was für die Kommunen insgesamt zusätzliche Kosten von 660 Euro im Monat bedeutet.

Kommunen in der Kostenfalle

Diese Ausgaben werden vom Land Nordrhein-Westfalen nur zum Teil getragen, da in der Regel Pauschalen an die Gemeinden gezahlt werden. Die massive Unterfinanzierung der Kommunen verschärft sich damit zunehmend. „Die Kommunen kommen für die Versorgung und spätere Integration auf, die Bundesländer tragen nur die Kosten für die Erstversorgung. Ein großer Teil der Kreise, Städte und Gemeinden ist seit Jahren unterfinanziert und kommt selten ohne neue Kredite aus, Klagen über leere Kassen gehören zum Alltag“, schreibt Zeit Online Anfang November. „Wenn wir verhindern wollen, dass das System kollabiert, brauchen wir ein Umsteuern bei der Flüchtlingspolitik auf Landes- und Bundesebene“, erklärte der Hauptgeschäftsführer des Städte und Gemeindebundes NRW, Bernd Jürgen Schneider, in Düsseldorf.

Der Bund stellt den Ländern ab nächstem Jahr 670 Euro pro Flüchtling pro Monat zur Verfügung. Hinzu kommen 500 Millionen Euro für den sozialen Wohnungsbau sowie 350 Millionen Euro zur Betreuung unbegleiteter minderjähriger Flüchtlinge. Auf kommunaler Ebene belaufen sich die jährlichen Kosten lautFrankfurter Allgemeine Sonntagszeitung pro Flüchtling allerdings je nach Bundesland auf 12 000 bis 13 000. „Die von vielen Bundesländern gezahlten Pauschalen decken die Kosten für die Kommunen nicht ab. Zudem sind die Städte und Gemeinden bei den Fragen der Integration gefragt – bis hin zum Wohnraum“, stellt der BR fest. Irene Alt (Grüne), Integrationsministerin in Rheinland-Pfalz, appelliert an die Bundesregierung: „Wir würden uns freuen, wenn auch der Bund sich an den natürlich deutlich steigenden Kosten beteiligen würde“.

Flüchtlingseinrichtungen sind häufig auf Sach- und Geldspenden angewiesen, „ Seit zwei Monaten ist die Kleiderkammer nicht in Betrieb und viele Menschen haben nur die notdürftige Kleidung, die sie am Leib tragen, teils keine Schuhe“, berichtet Anabel Jujol über die Lage der Erstaufnahme in Essen.

Personell sind die Kommunen auf die Hilfe Ehrenamtlicher angewiesen. „Es wird immer mehr auf das Ehrenamt abgeschoben …Wir bräuchten viel mehr Personal, wir brauchen viel mehr Ressourcen, Wohnungen“, beteuert Gerd Landsberg vom Städtebund. Auch Prof. Dr. Rolf Rosenbrock erklärt, der gegenwärtig ex­trem hohe Beitrag der ehrenamtlich Arbeitenden könne – trotz aller Motivation und ihrer Kräftigung – auf Dauer nicht erwartet und organisiert werden.

Keine ausreichende Sicherheit für Flüchtlinge

Anabel Jujols Schilderung zufolge ist das Sicherheitspersonal teilweise unqualifiziert oder sogar gewalttätig. Die Sicherheit der Flüchtlinge ist auch durch die Polizei nicht ausreichend gewährleistet. Im Jahr 2011 zählte das Bundeskriminalamt 18 Angriffe und Anschläge auf Flüchtlinge und Flüchtlingsunterkünfte. Alleine innerhalb der ersten zehn Monate dieses Jahres ist diese Zahl auf 637 gestiegen. Das ist mehr als das 35-fache. Außerdem gäbe es „keine Möglichkeit seine Wertsachen zu verschließen. Die Reisepässe und Flüchtlingsausweise wurden von EHC vor zwei Wochen eingezogen und sind immer noch nicht wieder ausgegeben worden.“ Es mangelt an Fachkräften der sozialen Betreuung und der Gesundheitsversorgung. Selbst mit Hilfe der Ehrenamtlichen sind die äußerst knapp gehaltenen Betreuungsschlüssel für Sachbearbeitung und Unterkunfts- und Sozialmanagement nicht leistbar. Aus der Schriftlichen Kleinen Anfrage der Abgeordneten Karin Prien (CDU) vom 25. September 2015 und Antwort des Senats Hamburg geht hervor, dass im April 2015

18 pädagogische Fachkräfte 529 unbegleitete minderjährige Flüchtlinge (UMF) betreuen mussten, was einem Betreuungsschlüssel von 1:29 entspricht. Vorgesehen ist laut Senat ein Betreuungsschlüssel von 1:3 für UMF.

Neben der personellen Unterbesetzung bei steigender Anzahl von Asylanträgen ist die fehlende Effektivität Grund für den immensen Bearbeitungsstau in deutschen Asylbehörden. Die durchschnittliche Bearbeitungszeit der Asylanträge beträgt ca. 5,4 Monate. Der Vergleich zur Schweiz oder Schweden, die für die Bearbeitung 48 Stunden brauchen, zeigt das Scheitern der deutschen Bürokratie. „In der Bundesrepublik gibt es so viele unerledigte Anträge wie in allen anderen EU-Ländern zusammen“, stellt der Migrationsforscher Dietrich Thränhardt in einem Gutachten für den Mediendienst Integration fest. Dem Innenministerium zufolge liegen der BAMF zurzeit ca. 300000 unbearbeitete Anträge vor. Dieses Defizit und die mangelnde Betreuung bedeutet für die Flüchtlinge teilweise Wartezeiten von Tagen und Wochen unter „menschenrechtswidrigen Zuständen“, wie sie der Flüchtlingsrat Berlin beschreibt.

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"Organisiertes Versagen", UZ vom 18. Dezember 2015



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