Seit Wochen dauern massive Proteste im Irak an. Es sind die größten Demonstrationen, die der Irak je gesehen hat. Sie richten sich gegen Wohnungsnot, fehlende Elektrizität und mangelnde medizinische Versorgung, gegen Korruption und ein System, das Wahlen und Ämter in ein enges Korsett von ethnischen und religiösen Quoten zwängt.
Von Bagdad bis Basra gingen vermummte Sicherheitskräfte mit Tränengas, Gummigeschossen und scharfer Munition gegen Demonstranten vor. Ein Raketenangriff auf die „Green Zone“, das Regierungsviertel, forderte ein Todesopfer. Bis jetzt wurden in den Auseinandersetzungen mehr als 250 Menschen getötet und mehrere Tausend verletzt. Der weitaus größte Teil von ihnen Demonstranten.
Bei den Parlamentswahlen 2018 hatte das Wahlbündnis „Sairun“ gesiegt – ein Bündnis aus der schiitisch-nationalen Partei von Muqtada al-Sadr und säkularer Parteien – darunter vor allem die Irakische Kommunistische Partei. Sairun trat fast ausschließlich mit neuen Kandidaten an, die vorher kein Amt innehatten, und hat dabei 54 der 329 Sitze des irakischen Parlaments gewonnen – mehr als jedes andere Bündnis. Suhad al-Khateeb, eine Vertreterin der Irakischen Kommunistischen Partei, gewann in Nadschaf einen der beiden Sitze für die IKP. Das ist besonders bemerkenswert, weil Nadschaf als eine der konservativsten und religiösesten Städte des Irak gilt.
Adil Abd al-Mahdi, ein früherer Ölminister, der keinem der Blöcke angehörte und sowohl dem Iran als auch den USA akzeptabel erschien, wurde im Oktober 2018 zum Premierminister gewählt. Sairun hatte die Wahl von Abd al-Mahdi ermöglicht, war aber nicht selbst Teil der Regierung.
„Die Reform gewinnt – und die Korruption flaut ab“, twitterte al-Sadr zum Wahlsieg von Sairun. Doch schon während der Regierungsbildung gab es massive Proteste in Basra und anderen Städten im Süden. Wegen verunreinigten Trinkwassers – zehntausende mussten deshalb im Krankenhaus behandelt werden – und weil es noch immer keine verlässliche Versorgung mit Elektrizität gab.
Die Hoffnung auf einen Wandel war vergebens. Die Probleme blieben und die Proteste, die vor einem Jahr stattgefunden hatten, fanden jetzt ihre Fortsetzung – gut organisiert und weitaus stärker als zuvor.
In Bagdad versuchten die Demonstranten, in die „Green Zone“ vorzudringen und Regierung und Parlament direkt mit ihren Forderungen zu konfrontieren. Auch dabei stießen sie auf massiven Widerstand. Trotz der Versicherung der Regierung, sie würde die Demonstranten schützen, gingen weiterhin vermummte Sicherheitskräfte auch mit scharfer Munition gegen sie vor und es gab erneut viele Tote.
Die Forderungen nach dem Rücktritt der Regierung ließen nicht nach. Die IKP forderte in einer Erklärung die Bildung einer neuen Regierung, Abgeordnete von Sairun organisierten ein Sit-in im Parlamentsgebäude.
Der Präsident des Irak, Barham Saleh, hat mittlerweile Neuwahlen zugestimmt. Sie sollen durchgeführt werden, sobald ein neues Wahlgesetz verabschiedet ist. In einer Fernsehansprache erklärte er, der Status quo könne nicht aufrechterhalten werden. Das Land brauche ernsthafte Reformen und große Veränderungen.
Es ist nicht das erste Mal, dass solche Erklärungen veröffentlicht wurden. In der Vergangenheit blieb das jeweils folgenlos. So bleibt es ist ungewiss, ob die Demonstrationen ausreichen, ernsthafte Veränderungen zu erreichen.
Der Parlamentssprecher kündigte mittlerweile Verfassungsänderungen an, die gemeinsam mit Wissenschaftlern, Experten und Sprechern der Demonstranten ausgearbeitet werden sollen. Und die Demonstrationen gehen weiter.