Ein Beitrag zur ästhetischen Debatte – Teil 2

Organisieren durch Schreiben

Von Ken Merten

Ging es im ersten Teil des Essays um die Frage der Organisation der Schreibenden (siehe UZ vom 13. 9.), finden sich hier drei poetische Anmerkungen zur Literatur:

Nochmal am Paradebeispiel undialektischer Dystopie: George Orwells Figuren sind hilflos, traurige Kleinigkeiten, von ihrer Welt zerquetscht. Das totalitäre Nein zu allem, das „1984“ posaunt, raubt der Kunst ihr Kostbarstes: Den Vorschein auf eine Welt, in der sich der Mensch von vielerlei Zwängen gelöst hat. Für Orwell ist alles Zwang. Möglichkeiten sind bei ihm unmöglich. Seine Literatur ist dadurch schlechte Propaganda. Schlechte vor allem, weil sie vorgibt, Literatur zu sein.

Auch wenn es für Marxisten ein Allgemeinplatz ist, dass sie die Welt, wie sie eingerichtet ist, in weiten Teilen negieren, so darf Belletristik nicht dabei stehenbleiben, das beschissene Jetzt zu verdammen, die Gegenwart als unheilbar toxisch, die Zukunft als Schrecken zu zeichnen. Literatur muss die Verstandesleistung mitbringen, Räume auszutarieren und Möglichkeiten aufzuzeigen.

Wenn etwa Saša Stanišic in seinem jüngsten Buch „Herkunft“ der Herkunftsliteratur die Determination austreibt und er uns zeigt, dass wir einen festen Rahmen haben, in dem aber viele Chancen schlummern, dann verweist er damit auf Utopiepotenziale. Wenn er dabei realistisch das ehemalige Jugoslawien und die BRD durch den Doppelblick eines Geflüchteten, aber eben auch eines Literaten in all seiner Freizügigkeit offenlegt, geht er tiefer und zugleich freier vor, als Orwell konnte, dessen Figuren nicht nur hilf-, sondern auch motivationslose Pappkamderaden sind.

Im Kapitalismus wird arbeitsteilig und warenförmig produziert, Literatur nicht ausgenommen. Das hat Auswirkungen auf die Gattungen. Lyrik verkauft sich nicht, also erfährt sie eine Abwertung. Im Theater hat die Performance das Dramatische ersetzt. Der Einzelne wird manifestiert und atomisiert. Als Unding gilt, dass sich ein Mensch in eine Rolle, geschweige denn in einen anderen Menschen einfühlen kann.

Ähnlich in der Prosa. Dort heißt die Forderung „Authentizität“ und führt zu Debatten wie der um Philipp Winklers Roman „Hool“, der es wagte, einer aus dem Proletariat stammenden, nichtakademischen Figur ein Mehr als ihren Wert als Ware Arbeitskraft, nämlich ästhetisches Reflexionsvermögen, zuzutrauen.

Authentizität/Performativität sollen angeblich näher an der Wahrheit dran sein. Dabei sind sie genauso nah dran wie der Naturalismus. Sie reduzieren die Realität auf das, was unmittelbar ist. Sie reproduzieren Phänomene und eliminieren das, was sein könnte. Das, was der Mensch wirklich zu leisten vermag. Es kann nicht damit getan sein, eine Figur die Sprache seines Milieus sprechen zu lassen und sie in ihrer Klassenzugehörigkeit einzuknasten. Es braucht Figuren, die sich über die Zustände erheben können, und Handlungsverläufe, die Entwicklungen zeigen. Keineswegs bedeutet das den Ausschluss von Heldinnen und Helden der Arbeiterklasse. Denn wer, wenn nicht diese, sucht nach Auswegen aus der Misere?

Was seit dem Ende der DDR und dem Einschrumpfen einer linken Gegenkultur in der BRD die wohl größte Frage aufwirft, ist immer noch die von Ronald M. Schernikau beim letzten Schriftstellerkongress der DDR: „Wie kommt die Scheiße in die Köpfe?“

Schmalspurbildung und Kulturindustrie haben ihr Bestes getan, die Errungenschaften der Bühnen- und Leserepublik DDR samt ihrer Verbündeten zu liquidieren. Das stellt marxistische Autorinnen und Autoren vor ein Problem, weil sie nicht jede plumpe Verkürzung in Kauf nehmen können, um noch marxistisch und Literatur zu sein. Sie können es auch nicht dadurch wettmachen, dass sie auf Agitprop zurückfallen, in der Hoffnung, der lesende Proletarier werde dadurch klassenbewusst.

Aber sie kann einen Beitrag zur Aufklärung leisten: Dass das Ausbeutungsverhältnis in einem profitorientierten Herrschaftssystem allumfassend ist, auch und gerade in Randgesellschaften eingreift, zeigt der bereits erwähnte Roman „Hool“. Wie eine solche Herrschaft in die Krise gerät, dabei zerbrechliche konkrete Utopien ermöglicht, war jüngst in Juan S. Guses „Miami Punk“ zu lesen; beide seien empfohlen.

Literatur ist der Widerspiegelung fähig, weil sie Menschen und ihre Verhältnisse abstrahieren und tief zeichnen kann. Literatur kann Interessen vermitteln und aufzeigen, mit wem und gegen wen es zu kämpfen lohnt. Sie zeigt auf, dass es zum Erkennen der Welt einer Haltung bedarf, einer Haltung, die Welt auf das Bestmögliche hin abzuklopfen. Aus dieser Haltung sollte dann auch bewusste Praxis werden.

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"Organisieren durch Schreiben", UZ vom 20. September 2019



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