Der „unipolare Moment“ der Weltgeschichte begann Ende 1991 mit der Niederlage des Roten Oktober. Die Träume vom „Globalen Weltdorf“, von einer „Friedensdividende“, Armutsbekämpfung und Entwicklung zerplatzten schnell. Der wahre Charakter der repressiv-ausbeuterischen US-Weltherrschaft zeigte sich schon 1991 im „Zweiten Golfkrieg“ gegen den Irak. Der Einsturz der drei WTC-Gebäude 2001 stellte dann so etwas wie die Generalermächtigung zur globalen Kriegführung für das siegestrunkene US-Imperium dar. Auch in seinen geostrategischen Dokumenten hatte sich die US-Führung längst vom Image als wohlwollender Hegemon verabschiedet.
Neue Kooperationen
Anfang des 21. Jahrhunderts war kein Land auf der Welt in der Lage, dem US-Imperium militärisch oder ökonomisch Paroli zu bieten. Russland stand am Ende der Jelzin-Ära vor existenziellen Problemen, China befand sich erst am Anfang seiner politischen Stabilisierung und seines ökonomischen Aufbaus. In vielen Staaten des Globalen Südens hatte sich der US-Imperialismus in der Schwäche- und Niedergangsphase des Roten Oktober ökonomisch und militärisch als dominante neokoloniale Supermacht etablieren können. Vor diesem trostlosen Hintergrund entstand das Bedürfnis nach alternativen Strukturen und Konzepten.
Die Abkürzung BRIC wurde um die Jahrhundertwende zum ersten Mal von der indischen Autorin Roopa Purushothaman formuliert. Der Chefvolkswirt der Goldman Sachs-Bank Jim O’Neill popularisierte die Abkürzung für die Schwellenländer mit einem großen Wirtschaftswachstum.
2006 kamen erstmals Vertreter Brasiliens, Russlands, Indiens und Chinas zusammen und berieten über ihre Zusammenarbeit. Ein erstes Treffen im vollen diplomatischen Format wurde von der russischen Seite unter der Beteiligung der Staatschefs Luiz Inácio Lula da Silva, Dmitri Medwedew, Manmohan Singh und Hu Jintao am 16. Juni 2009 in Jekaterinburg ausgerichtet. Hier wurde die BRIC-Cooperation formal gegründet. Wenig später erweiterten die BRIC-Staaten ihr Format zu BRICS – Mitte April 2011 nahm mit Südafrika erstmals auch ein afrikanischer Staat am jährlichen Gipfeltreffen der Gruppierung teil. Damit waren alle Kontinente des Globalen Südens vertreten. Die BRICS-Staaten repräsentieren 26,7 Prozent der Erdoberfläche und 41,5 Prozent der Weltbevölkerung; sie produzieren ein nominales Sozialprodukt von 27,5 Billionen US-Dollar, was einem knappen Drittel des weltweiten Sozialprodukts entspricht.
New Development Bank
Vor dem Hintergrund der Finanzkrise 2007 und Folgejahre und der restriktiven, austeritätspolitischen Verarmungspolitik von IWF und Weltbank gründeten die BRICS-Staaten am 15. Juli 2014 die New Development Bank (NDB). Die NDB wurde mit einem Bankkapital von 100 Milliarden US-Dollar ausgestattet. Jeder BRICS-Staat hält einen Aktienanteil von 20 Prozent. Sitz der Bank ist die chinesische Metropole Shanghai.
Bei ihrer Kreditpolitik verfolgt die NDB soziale, ökonomische und ökologische Zielsetzungen. Dazu zählt die Förderung von Infrastruktur- und Nachhaltigkeitsprojekten, die einen signifikanten Entwicklungsimpuls in den Mitgliedsländern erzeugen.
Nach der NDB-Satzung können alle UN-Mitgliedsstaaten auch Anteilseigner der NDB werden, allerdings darf der Stimmenanteil der BRICS-Staaten nicht unter 55 Prozent fallen. Die sukzessive Erweiterung der NDB-Mitgliedschaft wird als strategisch wichtig erachtet. 2021 wurden Ägypten, Bangladesch, Uruguay und die Vereinigten Arabischen Emirate (VAE) Mitglieder der NDB.
Der reaktionäre Coup gegen die brasilianische Präsidentin Dilma Rousseff 2016, die Inhaftierung Lulas 2018 und die Wahl des Hindu-Nationalisten Narendra Modi 2014 sowie der indisch-chinesische Grenzkonflikt 2020 waren Bewährungsproben für die BRICS-Kooperation.
Scheidepunkt
Die Dinge änderten sich mit dem Ukraine-Konflikt von Grund auf. Das US-Imperium hatte offenbar beschlossen, den „Great Power Competition“ (GPC) genannten „Wettbewerb“ der Großmächte hin zu einer militärischen und ökonomisch-propagandistischen Entscheidungsschlacht zuzuspitzen – und in diesem Krieg duldete es keine Neutralität. Alle Staaten, selbst China, sollten sich in die westliche Phalanx der Russland-Sanktionierer einreihen. Diese Militarisierung des GPC ist bekanntlich nicht gerade von Erfolg gekrönt. Zum einen verweigerten fast alle Staaten Eurasiens und des Globalen Südens die Sanktionsgefolgschaft, zum anderen liefen die Dinge auf dem ukrainischen Schlachtfeld trotz massiver Unterstützung des kollektiven Westens alles andere als nach Plan. Zum Dritten zeitigte der Sanktionsblitzkrieg zwar verheerende Ergebnisse, allerdings vor allem in Europa – hingegen erzielten der Rubel wie auch die Einnahmen aus dem russischen Energiegeschäft Rekordwerte. Von einer „Ruinierung Russlands“, von der die deutsche Außenministerin fantasierte, kann jedenfalls keine Rede sein.
Für die große Mehrheit der Staaten stellt sich immer drängender die Frage, wohin sie sich in Zukunft orientieren sollen. Dabei machen die imperialistischen Staaten nicht gerade bella figura. Vor allem die USA sind immer mehr zu einem „Todesstern“ des Krieges, der Repression, des Zerfalls und der Ausbeutung geworden. Eine positive Zukunft, eine Unterstützung für Fortschritt und Entwicklung ist hier jedenfalls nicht zu erwarten. Demgegenüber schreiben die Boomtowns in Ost- und Südostasien sowie in Indien eine Erfolgsgeschichte. Die Belt-and-Road-Initiative übt eine enorme Anziehungskraft auf viele Staaten des Globalen Südens aus. Nun könnte es möglich werden, lange gehegte und bisher für unfinanzierbar gehaltene Infrastrukturvorhaben zu realisieren – zumal eine preiswerte und sichere Energieversorgung durch Russland oder Iran möglich erscheint.
Mit dem Ukraine-Konflikt hinzugekommen ist die Erkenntnis, dass die US-Kriegsmaschine an Grenzen stößt. Selbst eine achtjährige Kriegsvorbereitung, der Aufbau der stärksten Proxy-Armee, über die Washington je verfügte, und auch die massive westliche Unterstützung mit Waffenlieferungen, Ausbildern, verdeckten Truppen, Logistik, Feuerleitung und Aufklärung haben nicht zum Erfolg verholfen. An der Erkenntnis, dass Russland diesen Krieg gewinnen wird, führt kein Weg vorbei. Damit sind für den Globalen Süden neue Handlungsoptionen eröffnet. Die harte Hand – genauer: die US-Kriegsmaschine, mit der der US-Imperialismus seit 1945 den größten Teil der Welt und nach 1991 den gesamten Globus regierte –, hat zu zittern begonnen. Mehr und mehr Staaten entwinden sich ihrem Griff und suchen nach Möglichkeiten, sich neu und unabhängig vom Imperialismus partnerschaftlich zu organisieren.
Von BRICS zu BRICS Plus
So ist auch wieder Bewegung in die zeitweise wenig sichtbare BRICS-Kooperation gekommen. Mit dem BRICS-Vorsitz Chinas in diesem Jahr hat die Debatte über eine Erweiterung der BRICS-Gruppe unter dem Format BRICS Plus an Fahrt gewonnen. Der 14. BRICS-Gipfel am 23. Juni 2022, als Videokonferenz abgehalten, präsentierte sich gewissermaßen als konstruktive, der Kooperation und der progressiven Entwicklung zugewandte Gegenveranstaltung zum G7-Treffen des repressiven und bellizistischen „Wertewestens“ auf Schloss Elmau. Der BRICS-Gipfel war begleitet von zahlreichen Nebenveranstaltungen: einem Treffen von Energiefachleuten, von Infrastruktur- und Megaprojektexperten, von Anti-Korruptions-Beauftragten beziehungsweise -Ministern, einem Gewerkschaftsforum, einem Medienforum, einem Jugendcamp und anderen Meetings. Die Abschlussveranstaltung war gewissermaßen ein Ausblick auf ein mögliches BRICS Plus-Format. An dem virtuellen Treffen nahmen 18 Staatschefs aus Algerien, Argentinien, Ägypten, Äthiopien, Brasilien, China, Fidschi, Indonesien, Indien, Iran, Kambodscha, Kasachstan, Malaysia, Russland, Senegal, Südafrika, Thailand und Usbekistan teil. Es stand unter dem Motto: „Stärkung einer Globalen Entwicklungspartnerschaft für eine neue Ära, um gemeinsam die 2030-Agenda für nachhaltige Entwicklung zu verwirklichen“.
Ganz offensichtlich sehen die Länder des Globalen Südens die Chance und auch die Notwendigkeit für eine „Neue Ära“, weg von der Ausbeutung durch US-Dollar, Weltbank und IWF, weg von der „regelbasierten Ordnung“ des Washington Consensus und hin zur von der UN-Vollversammlung 2015 beschlossenen „2030 Agenda für nachhaltige Entwicklung“. Entwicklungsmöglichkeiten eröffnet dabei vor allem die Belt-and-Road-Initiative. An die infrastrukturelle Durchdringung Eurasiens und zunehmend auch Afrikas knüpfen sich große Erwartungen. Wenn es China – im Gegensatz zu den neoliberalen Doktrinen – mithilfe einer starken staatlich-gesellschaftlichen Steuerung geglückt ist, Hunderte Millionen aus der extremen Armut zu befreien (die Armutsrate lag 1981 noch bei 88 Prozent), den Hunger zu bekämpfen, Arbeit und Einkommen für eine Bevölkerung von 1,4 Milliarden Menschen zu schaffen und gigantische Infrastrukturprojekte zu realisieren, so ist das ein Beispiel, eine Ermutigung und ein Rückhalt für viele Menschen des Globalen Südens.
Bei aller weitgehenden Unterstützung der BRICS Plus-Pläne gibt es aber doch auch unterschiedliche Vorstellungen davon, wie eine Erweiterung gestaltet, welchen Charakter die neue Kooperation haben könnte, inwieweit auch eine ökonomische und politische Integration denkbar ist. Diskutiert werden beispielsweise Strukturfragen: Wie sind regionale Kooperationen, wie sie Russland und China momentan verstärkt entwickeln, in eine globale Erweiterung integrierbar? Es geht um inhaltliche Probleme, etwa die Frage, inwieweit reine Freihandelsvereinbarungen zielführend sind oder ob eine neue, ausgewogenere ökonomische Ordnung vorstellbar ist. Die von Washington aufoktroyierte neoliberale Globalisierung – im Kern das Recht des angloamerikanischen Finanzkapitals auf ungehemmte globale Ausbeutung – legt ja gerade ihren Offenbarungseid ab. Dazu ist als Alternative zu Weltbank und IWF vorrangig auch eine auf nachhaltige Entwicklung ausgerichtete Finanz- und Kreditstruktur auf- und auszubauen, wie sie mit der NDB begonnen wurde.
Organisation des Südens
Der besondere Charakter der BRICS-Kooperation besteht darin, dass jedes Mitgliedsland auf seinem Kontinent ein führendes Land von regionalen Kooperationsstrukturen ist: Brasilien im Mercosur, China in der Shanghai Cooperation Organisation (SCO), in der China-ASEAN-Free Trade Area und in der Regional Comprehensive Economic Partnership (RECEP), Indien in der South Asian Association for Regional Cooperation (SAARC), Südafrika in der Southern African Development Community (SADC), Russland in der Eurasian Economic Union (EAEU). Gelänge es, diese regionalen Kooperationen unter dem BRICS Plus-Format zu vereinen, so würde eine weltumspannende Organisation des Globalen Südens mit mindestens 35 Mitgliedsstaaten – und später deutlich mehr – entstehen. Hier würde sich die große Mehrheit der Weltbevölkerung versammeln, welche den weitaus überwiegenden Teil der globalen Landoberfläche bewohnt und die Masse der weltweiten Wirtschaftskraft erarbeitet. Diese schiere Größe würde eine enorme Gravitationskraft entwickeln, die auch jene anzuziehen in der Lage wäre, die heute noch abseitsstehen.
Ähnlich der aus der Bandung-Konferenz 1955 hervorgegangenen „Bewegung der Blockfreien“ ist auch 2022 eine Organisation des Globalen Südens im Entstehen begriffen. Allerdings heute unter völlig veränderten Bedingungen: 1955 war die ökonomische und militärische Macht des US-Imperiums überwältigend – 2022 ist der US-Imperialismus allenfalls ein Schatten seiner selbst. Seine industrielle Basis ist exportiert, seine Infrastruktur liegt in Trümmern, seine Arbeiterklasse verarmt, der Mittelstand ruiniert, sein führendes Personal korrupt und zu strategischen Überlegungen unfähig. Das Imperium führt seine permanenten Kriege auf Kredit und hofft, dass der Rest der Welt sie über den US-Dollar bezahlt. Mit dem Ukraine-Krieg ist die Stunde der Wahrheit gekommen: Das ebenfalls korrupte US-Militär, der völlig überfinanzierte militärisch-industrielle Komplex, in Wirklichkeit eine riesige Geldwaschmaschine, konnten schon mit drittklassigen Truppen mit Kalaschnikows auf Pick-ups nicht fertig werden und sind erst recht nicht mehr in der Lage, eine professionelle Armee wie die russische in Schach zu halten. Der Nimbus des unbesiegbaren US-Militärs zerbröselt ebenso wie die Allmacht des US-Dollar. Die Chancen für einen neuen Anlauf für BRICS Plus stehen ungleich besser als 1955.
Klaus Wagener
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