Nach Massenentlassungen im Bildungssektor, in der Justiz, bei Polizei und Armee und den Verhaftungen zehntausender angeblicher Unterstützer des Putschversuchs im Juli, schaltet Präsident Erdogan nun systematisch die linke Opposition in der Türkei aus. Es geht Schlag auf Schlag. Binnen weniger Tage wurden der Chefredakteur der Tageszeitung „Cumhuriyet“, Murat Sabuncu, und weitere leitende Redakteure festgenommen. Es folgte die Inhaftierung von zehn demokratisch gewählten Abgeordneten der prokurdischen HDP, darunter die Parteivorsitzenden Selahattin Demirtas und Figen Yüksekdag. Weitere Festnahmen sind nur eine Frage der Zeit, auf kommunaler Ebene in den kurdischen Gebieten im Südosten der Türkei sind sie ohnehin an der Tagesordnung. Bis Ende Oktober waren bereits mehr als 700 Parteimitglieder verhaftet worden, darunter Dutzende Bürgermeister.
Im Gegensatz zu den Angriffen auf Andersdenkende davor, haben die jüngsten Attacken Ankaras international für Aufsehen gesorgt. Nennenswerte Konsequenzen für den NATO-Partner und EU-Beitrittskandidaten gibt es bisher nicht. Die „Demokratische Partei der Völker“ (HDP) ist mit 59 Sitzen die drittstärkste Kraft in der türkischen Nationalversammlung. Den zehn verhafteten Abgeordneten wird Mitgliedschaft in der verbotenen Arbeiterpartei Kurdistans PKK und „Terrorpropaganda“ vorgeworfen. Die HDP weist die Anschuldigungen zurück. Parteichef Demirtas erklärte in einer ersten Botschaft aus dem Gefängnis, sein Land werde jeden Tag „tiefer in die Dunkelheit“ gestürzt. „Aber vergesst nicht: Ein einziges Streichholz, eine einzige Kerze reichen aus, um diese Dunkelheit zu erhellen.“ Er und die anderen HDP-Politiker sind erhobenen Hauptes in den Knast gegangen. Den Haftrichtern vorgeführt, haben sie eine vorab abgestimmte Erklärung abgegeben: „Unsere Partei, die HDP, macht sich eine Politik zu eigen, welche die multikulturelle, multilinguale und multireligiöse Realität der Türkei widerspiegelt und setzt sich dementsprechend aus Vertreterinnen und Vertretern mit verschiedenster Identität und religiöser Herkunft zusammen. Wir sind Türken, Kurden, Araber, Armenier, Turkmenen, Suryoye, Eziden, Mhallami und Vertreter von vielen weiteren ethnischen Gruppen, die an die Demokratie und das gemeinsame Leben glauben und die davon überzeugt sind, dass ein gerechtes und gleichberechtigtes Leben möglich ist, das auf einer pluralistischen, kommunalen und auf Autonomien basierenden Demokratie beruht.“ Die HDP sei von Anfang an ein Angriffsziel Erdogans gewesen: „Wir sind gegen jegliche Form von Gewalt und glauben fest daran, dass jeder Konflikt durch Dialog und Verhandlungen überwunden werden kann. Folglich ist die HDP für Erdogan, der die Vorherrschaft eines auf einen Mann, einer Sprache und einem Glauben beruhenden Faschismus zu etablieren sucht, auch aus ideologischer Sicht eine Gefahr.“ Bei den anstehenden politischen Schauprozessen unter Leitung von Erdogan-treuen Staatsanwälten und Richtern werden die HDP-Abgeordneten nicht mitspielen. „Ich werde auf keine Frage antworten, welche Sie mir stellen werden. Ich glaube nicht an ein gerechtes Urteil durch Ihr Gericht. Selbst dass ich hierher gebracht wurde, stellt einen Rechtsbruch dar. In der politischen Arena sollte der Gegenüber eines Politikers auch ein Politiker sein, nicht ein Justizbeamter.“
Die HDP bekundet, ihren politischen Kampf solange fortzuführen, bis in der Türkei „Frieden herrscht und ein pluralistisch-demokratisches System aufgebaut worden ist“. Die Verhafteten gehen mit Zuversicht in den Kampf: „Wir haben keine Zweifel daran, dass wir uns von der Diktatur, die unserem Land und unserem Volk unter dem Deckmantel des ‚Präsidialsystems‘ aufgezwungen wird, befreien werden. Früher oder später wird der Kampf um Demokratie siegen. Dieses Regime, das durch die Person Erdogans vollständig abgenutzt wurde, wird ohne Zweifel abgelöst werden müssen.“
Ähnlich sieht man das im Verlagshaus, das die linke Zeitung „Evrensel“ herausgibt. „Wir publizieren weiter“, bekunden die Mitarbeiter in einer Stellungnahme. Und seit dem Sturm auf die „Stimme der Demokratie“ und letzte Festung des freien Worts halten Unterstützer der „Cumhuriyet“ Wache vor dem Redaktionssitz. Die Protestaktion erinnert an die Solidaritätsbekundungen für den früheren Chefredakteur der Zeitung, Can Dündar. Weil er illegale Waffenlieferungen des türkischen Geheimdienstes an islamistische Terrorgruppen in Syrien enthüllt hatte, war Dündar vor einem Jahr zusammen mit seinem Kollegen Erdem Gül für drei Monate in Untersuchungshaft genommen worden. Über seine Zeit in Isolationshaft und die Kraft der Solidarität hat er mit „Lebenslang für die Wahrheit“ ein beeindruckendes wie mutmachendes Buch veröffentlicht. Vom deutschen Exil aus schreibt Dündar heute gegen Erdogans Diktatur an. Vor allem aber prangert er die Unterstützer des Terrorpaten an: Bundeskanzlerin Angela Merkel, die sich mal „besorgt“, mal „alarmiert“ über die Entwicklungen in der Türkei zeigt, aber eben keine politischen Konsequenzen zieht: Abzug der Bundeswehr aus der Türkei, Aussetzen der EU-Beitrittsgespräche, Einfrieren der Vor-Beitrittshilfen in Milliardenhöhe und Sanktionen gegen Erdogan. Wer den Despoten in Ankara stoppen will, muss seine Helfershelfer in Berlin unter Druck setzen. Internationale Solidarität muss hier ansetzen. Die Unterstützung reicht hier von Kommunisten bis in konservative Kreise hinein.